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Schuld und Strafe?

Wider die "Eigenverantwortung"

„Was wir in den vergangenen dreißig Jahren und mehr erleben, lässt sich unter dem Titel ›Verantwortungsverschiebung‹ verbuchen. Es geht ja nicht nur darum, dass sich der Staat seit Jahrzehnten aus seiner Zuständigkeit für die Daseinsvorsorge stiehlt und es dem Markt und den Privaten überlässt, dass die Menschen mit Wasser, Wohnungen, Energie und Fürsorge aller Art versorgt werden. Die neoliberalen Denkfiguren haben sich auch der Einzelnen bemächtigt, die sich in Eigenverantwortung ›empowern‹. (…)
Eine besondere Art der Privatisierung von Verantwortung erleben wir seit Ausbruch der Pandemie, durch die in bislang ungeahnter Weise der individuelle Körper für den Gemeinschaftskörper in Dienst genommen wurde. Abstands- und Hygieneregeln waren und sind Verhaltensaufforderungen an den Einzelnen, auch zum Wohl der Gemeinschaft. Nachdem endlich die Impfstoffe auf dem Markt waren, blieb es den meisten von uns überlassen, sich in heftigen Konkurrenzkämpfen um einen Impftermin zu kümmern, Ärzt:innen wiederum oft die Entscheidung, wer den Vorzug bekommt.
Inzwischen sind die Lager in der westlichen Hemisphäre mit Impfstoffen überfüllt, sie finden kaum Abnahme. Deshalb stehen nun die Konsumverweigerer am Pranger. (…) Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, ein Mann nie zufälliger Aussagen, spricht gar von der ›Tyrannei der Ungeimpften, die über die Geimpften bestimmen‹.“

Ulrike Baureithel, „Schuld bist du – nicht!“, „der Freitag“, Nr.45/11.11.2021, S. 3.

„Die Pandemie hat nicht nur Studienpläne durcheinandergeworfen und Hörsäle leer gefegt – sie hat auch das soziale Gefüge an den Universitäten zerstört. Die Auswirkungen, die die Kontaktbeschränkungen und die Online-Lehre auf die Freundschaften und Bekanntschaften der Studierenden hatten, werden erst jetzt in ihrem Ausmaß sichtbar. ›Die sozialen Strukturen haben massiv gelitten‹, sagt Wilfried Schumann, vom Psychologischen Beratungsservice der Universität und des Studierendenwerks Oldenburg. Schumann kümmert sich seit mehr als dreißig Jahren um die psychologische Gesundheit von Studierenden. Er sagt, die vergangenen drei Semester hätten nichts zu tun gehabt mit einem regulären Studium. ›Das soziale Miteinander war in diesen Jahrgängen nicht realisierbar.‹“

Sarah Obertreis, „Kann man Freundschaften nachholen?“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“), 13.11.2021, S. C 3.

„Allzeit: Wie kann dieses besser gemacht werden?“ (53)

Georg Christoph Lichtenberg, „Sudelbücher“, Heft D (1773-1775).

„Am 8. Juni 1999 präsentierten der britische Premierminister Tony Blair und Bundeskanzler Gerhard Schröder in London ein Papier, das einen ›Anstoß zur Modernisierung ‹ der Sozialdemokratie in Europa geben will. Die Erklärung, zu deren Mitverfassern Kanzleramtsminister Bodo Hombach zählt, fordert eine Abgrenzung von ›traditioneller‹ sozial- demokratischer Politik. Das Verständnis dessen, was ›links‹ ist, dürfe nicht ›ideologisch einengen‹. Die Wahlkampflabel einer ›Politik des Dritten Weges‹ (Blair) und der ›Neuen Mitte‹ (Schröder) sollen ›Europas neue Hoffnung‹ werden...”

(Redaktion der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, für die Ausgabe Nr. 7 1999)

Ein zentraler Satz aus dem Schröder-Blair- Papier: „Wir haben die Werte, die den Bürgern wichtig sind – wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn – zu häufig zurückgestellt hinter universelles Sicherheitsstreben.“

Spätestens seitdem wurde dereguliert, kommerzialisiert und privatisiert, daß die Schwarte nur so kracht. Jetzt haben wir die Malaise, an der CDUCSU sowie die FDP und die Unternehmensverbände (auch die lustige Warenwerbung) maßgeblich mitbeteiligt waren. Und: Die schlechten Lieder werden schräge weitergesungen.

Auf dieser Linie liegt auch die rigide – ebenso chaotische und dilettantische – Lockdown-Politik der regierenden Koalitionen im Bund und in den Ländern.

Nicht wirklich rationale Aufklärung der Bevölkerung, die qualifizierte Verbesserung des Gesundheitssystems (Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Senioreneinrichtungen), die Regulierung der Pharmaindustrie, eine gute Organisation der Impfungen, ein wachsamer Blick für die Komplexität der Gesellschaft bzw. die Grundrechte und die Bedürfnisse der Menschen, für die internationale Solidarität sowie vorausschauendes Denken prägten den Mainstream der verantwortlichen Politik, sondern das „Fahren auf Sicht“, die Politik mit der Angst und die Beibehaltung der aufgestauten Übel.

Diese Misere betraf auch die Hochschulen. Statt mit (vorhandenen) vernünftigen Hygienekonzepten zumindest hybrid ein Optimum an Präsenzlehre und kulturellen Begegnungen zu ermöglichen, wurden fast alle Mitglieder der Hochschulen – kulturelle Organismen! – in Quarantäne (Stubenhockerei) und Onlinelearning, d.h. in die soziale Isolation, geschickt.

Mit dem dennoch deutlichen Fortschreiten des Impfens wurden die Zwänge wieder gelockert. Dieses Semester soll wieder in weitgehender Präsenz stattfinden. Das allerdings geht nicht so einfach von heute auf morgen. Deshalb haben wir auch mit der Kulturwoche („Kultur eröffnet!“, vom 11.10.-15.10 auf dem Campus Von-Melle- Park) eine neue Lebendigkeit begonnen. Wiederbegegnungen sind notwendig, sinnvoll und erfreulich. Das ist ein Anfang.

Neben der Studienreform (Bachelor/Master), der Hochschulfinanzierung und einer aktiven demokratischen Beteiligung bleiben nach wie vor die Nachhaltigkeitsziele der UNO auf der – auch wissenschaftlichen – Tagesordnung.

„Sind WIR nicht auch ein Weltgebäude, so gut als der Sternenhimmel und eines, das wir besser kennen sollten, und besser kennen können, sollte man denken, als das dort oben.“

Georg Christoph Lichtenberg, „Sudelbücher“, Heft L (1796-1799).