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Die Rückgewinnung des Sozialen

Zur Weitung des Horizonts

„Die Psychologie-Professorin Eva-Lotta Brakemeier hat zusammen mit ihrem Team seit Dezember 2020 Studierende der Universität Greifswald in einer dreiteiligen Studie zur Pandemie befragt: wie es ihnen geht, worunter sie besonders leiden, wie sie mit ihrem Studium klarkommen und was dringend wieder anders werden muss.
Im aktuellen Fragebogen konnten die Studentinnen und Studenten zusätzliche Fragen des SPIEGEL beantworten. Mehr als 500 haben ihre Erfahrungen, Sorgen, Ängste und Forderungen an Dozierende, Universitätsverwaltung, Politik und Gesellschaft frei und anonym formuliert. Die Teilnehmenden überwiegend waren es Frauen, von denen viele am Anfang des Studiums stehen, sprechen von Isolation und Vereinsamung, den Stärken und Schwächen digitaler Lehre. Ihre Zukunftssorgen werden so oder so ähnlich bundesweit an Universitäten geäußert, kaum eine Hochschule bemüht sich aber so intensiv, diese Äußerungen zu sammeln und auszuwerten.
Einige Auszüge:
»Das Schlimmste an der Pandemie ist für mich die soziale Isolation. Ich war bereits in den zwei Jahren vor der Pandemie sehr isoliert und wollte dem nun durch das Studium ein Ende setzen und neu anfangen. Der halbjährige Lockdown hat mich daher sehr belastet.«
»Eines steht fest: WIR KÖNNEN NICHT MEHR.«
»Durch die Pandemie muss ich hochwahrscheinlich mein Studium abbrechen.«
»Seminare, Fragen in Vorlesungen und Diskussionen laufen sehr schleppend, weil niemand sich aufgrund der Anonymität traut etwas zu sagen.«
»Der Wert der Familie und Freunde ist gestiegen. Jedoch habe ich größere Sorgen um meine berufliche Karriere. Ich habe Angst, in der Arbeitslosigkeit zu landen.«“

„SPIEGEL-ONLINE“, „Wir sind solchen Krisen nicht machtlos ausgeliefert“, 30.7.2021.

„Small Talk ist Übungssache. Dabei stand Small Talk lange in Verruf. Nur tiefgründige Gespräche erfüllen den Menschen hieß es. Kurzweiliger, belangloser Small Talk galt auch in der Forschung als nichtessenziell für Lebensglück. Tiefgehende Gespräche hingegen steigern nachweislich die Zufriedenheit. 2010 kam der deutsche Psychologe Matthias Mehl von der University of Arizona in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Small Talk eher unbefriedigend sei, am Ende nicht glücklich mache. Erst im Jahr 2018 dann widerlegten Mehl und sein Team ihre eigenen Erkenntnisse in einer groß angelegten Studie. Demnach ist auch Small Talk wichtig: Wer insgesamt mehr redet, und somit ein sozialeres Leben hat, ist im Schnitt glücklicher. (…) Lockere Gespräche mit Bekannten oder Freunden sind die Grundlage für tiefgründige Gespräche mit Freunden.“

Johanna Dürrholz, „Haben wir uns noch etwas zu sagen?“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ („FAS“), 1.8.2021, S. 10.

„Keine Untersuchung muß für zu schwer gehalten werden, und keine Sache für zu sehr ausgemacht.“ (305)

Georg Christoph Lichtenberg, „Sudelbücher“, Heft K, 1793-1796.

Wollen wir uns fügen? Das ist mehr als eine rhetorische Frage. Zum angespannten Gesicht der Lockdownkrise: Wer in „seine“ vier Wände gesperrt ist, bei Einschränkung der Grundrechte, sich lediglich zwischen Bett, Kühlschrank und Schreibtisch (Kachelkommunikation) bewegt und bisweilen den Müll runterbringt und nötigenfalls zum Supermarkt geht, ist in seiner sozio-kulturellen Existenz erheblich eingeschränkt.

Der eigentliche Mensch: Wir sind, alles in allem, gesellschaftliche, d.h. soziale, kulturelle und auch, ja, politische Wesen. Das wird schmerzlich bewußt, wenn wir nicht mehr dürfen sollen. Soziale Begegnung, Interaktion, Integration und Teilhabe machen wesentlich das humane Leben aus. Dazu mag auch der
„Small Talk“ gehören.

Gesprächstiefe: Die Überschreitung der Belanglosigkeit speist sich nicht nur aus Gesprächen en passant. Erhebliche Quellen sind ebenso die eigene soziale Lage, Seminarthemen, die Berufsperspektive, verschiedene Verhaltensweisen, alles, was Freude oder Ärger macht, die persönliche Entwicklung, Trouble mit der Familie, Filme, Ausstellungen, Theater, die nächste Bundestagswahl, die Klimakrise oder die deutsche Fregatte im asiatischen Raum - mithin alles, was die Welt – positiv und negativ – bewegt oder in Atem hält. Dazu mögen tiefere Sinnfragen kommen.

Es geht also um einiges von Belang – individuell, zwischenmenschlich respektive gesellschaftlich, im Großen und Ganzen sowie im
„Kleinen“ und Besonderen.

Diese menschliche Reichhaltigkeit und Bedeutung ist zurückzugewinnen. Dazu gehört eben- falls, die Hochschulen wieder zu öffnen. Reales Lernen, Entwickeln und Gestalten sind ohne – auch zufällige – Begegnungen nicht möglich.
Dafür ist vor die Tür und in die Welt zu gehen. Der Horizont wird weiter, der Alltag angenehmer. So hat die Tatsache, etwas zu besprechen ihre tiefere Bedeutung.

Es hängt von uns ab. Der erste Schritt ist entscheidend. Auf diese Weise ist niemand wirklich allein – oder kein Niemand.