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Geschichte, heute, morgen
„Denazifizierung besteht nicht darin, daß ein Briefträger, der eines Tages der Partei beitrat, keine Briefe mehr austragen darf – und ähnlichem. Sie bestünde in der Sozialisierung der key industries und in der rücksichtslosen Enteignung aller unter dem Regime reich gewordenen und noch reichen Nazis; sie bestünde darin, diese wohlgenährten Parasiten ihres sozialen und politischen Einflusses zu berauben, statt voller Klassensympathie Champagner mit ihnen zu trinken. Im ganzen glaube ich, daß trotz allem, was dagegen zu sprechen scheint, die Menschheit in den letzten Jahrzehnten immerhin einen guten Schritt vorwärts getan hat – oder vorwärts gestoßen worden ist – auf dem Wege ihrer sozialen Reife. Überzeugt das jammervoll vertrotzte Deutschland sich davon, so wird es gewahr werden, daß es, selbst ohne Wissen und Willen, den Schritt mitgemacht hat.“
Thomas Mann: Brief an Frank Kingdon, 1947; in: Gesammelte Werke, Bd. 13., F.a.M. 1974, S. 64.
Aufgeklärte Kultur, politisches Engagement und kritische Wissenschaft sind eine gute Verbindung. Der ganze Mensch und seine Lebensverhältnisse, der Widerspruch zwischen größten Verletzungen menschlicher Würde und ihrer lebendigsten Entfaltung kommt zu Ausdruck und Wirkung. Die Gesellschaft und die Persönlichkeiten, wie sie waren, geworden sind und werden sollen, sind Faktoren in der Geschichte.
Mit diesem Impetus waren vor, während und nach dem Faschismus in Europa tausende Intellektuelle engagiert in Widerstand und Exil, unversöhnlich mit den profitgierigen Interessenten von Rassismus, Antisemitismus, industrieller Massenvernichtung, politischer Verfolgung und schließlich – nach 1945 – auch mit den Profiteuren der Restauration eben jener bürgerlichen Kräfte, die den Faschismus nicht hatten aufhalten können oder gar befördert haben.
Heute, rund 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, muss niemand in Kriegen sterben, wenn es keine Rüstungsindustrie gibt und ihre politische Begünstigung; ist ein vernünftiges Verhältnis von Mensch und Natur realistisch, wenn Menschheitsinteressen Vorrang haben; ist Armut kein Muß, wenn eine echte und demokratische Entwicklungspolitik realisiert wird; ist durch internationale Solidarität ein präventiv wirksames Gesundheitssystem global möglich, wenn Geschäfte nicht dominieren; sind Literatur, Musik und kreative Gestaltung Lebensmittel für alle, wenn Kommerz sie nicht verunstaltet – und ist Politik ein erfreulicher, argumentativer Prozess gemeinsamer Verbesserung aller Lebensbereiche, wenn egoistische Vorteilsnahme sie nicht korrumpiert.
Diese Gegensätze der gegenwärtigen Welt tragen die Lösung der größten Herausforderungen der Zivilisationsentwicklung in sich. An dieser Lösung sollten wir arbeiten. Mit Geschichtsbewußtsein, mit Ambition für eine bessere Gegenwart und Zukunft, mit Unversöhnlichkeit gegen (nationalen) Egoismus, Rohheit und Unrecht und zusammen mit unseresgleichen in aller Welt, also: mit kooperativer Leidenschaft.
Geschichte, Gegenwärtigkeit und Literatur regen dazu an.