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Eine Öffnung der Hochschulen liegt nahe

Für die volle Präsenz der Persönlichkeit(en)

„Am schönsten ist es doch zu Hause. Für eine Lebensperiode, die für Aufbruch, Entdeckung und Unabhängigkeit steht, ist das eigentlich eine kuriose Formel. Wer wird später von einer Zeit schwärmen, die er im Wohnzimmer verbracht hat? Derzeit sieht es danach aus, als müssten sich Studenten noch eine Weile gedulden, bis sie wieder in Seminare dürfen. (...) Traut man den Studenten und Dozenten anders als Schülern nicht zu, den angemessenen Abstand zu halten? Lassen sich Seminare nicht ebenso krisengerecht organisieren wie Gottesdienste oder Restaurantbesuche? Bieten die großen Hörsäle nicht ideale Ausweichmöglichkeiten für Seminare? Der Eindruck drängt sich auf: Man darf, aber will nicht. Das nährt die mit dem Digitalsemester aufgekommene Befürchtung, das Vakuum der Pandemie werde für die schleichende Auszehrung der Präsenzuniversität genutzt. (...) Im Hintergrund formieren sich wirtschaftliche Interessen. Die Bertelsmann Stiftung, ein mächtiger Akteur in der Bildungspolitik, macht sich seit langem für den Umbau der Hochschule in eine Art Bildungsfabrik stark. Der Bertelsmann-Konzern selbst, der in das Geschäft mit der Online-Lehre eingestiegen ist, hat ein materielles Interesse an der digitalen Umwandlung der Universität. Das mit der Bertelsmann Stiftung verbundene Centrum für Hochschulforschung arbeitet wiederum mit der HRK [Hochschulrektorenkonferenz] im Hochschulforum Digitalisierung zusammen. (...) Eigentlich ist seit langem klar: Digitale Kommunikation schafft keine belastbaren Bindungen, wie die Twitter-Revolution im Iran, die Facebook-Revolution in den arabischen Ländern oder die Occupy-Proteste gezeigt haben, die einmal als neue digitale Sammlungsbewegungen galten, denen kein Mächtiger mehr standhalten würde.“

Thomas Thiel, „Wer nicht da ist, kann auch nicht stören“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung („FAZ“), 23.5.2020, S. 11.

„‚Freedom from want’ [Freiheit von Not/Mangel] ist eine der von Präsident Franklin D. Roosevelt verkündeten vier Freiheiten. Aber auch bei totaler Befreiung von materieller Not wäre der Hunger des Willens noch nicht befriedigt.“

Patrick Bahners, „So kommt der Wille auf seine Kosten/Zum neunzigsten Geburtstag von Clint Eastwood“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“), 30.5.2020, S. 11.

„Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“

Franz Kafka, Aphorismus, notiert am 20. Oktober 1917.

Niemand muß ein Held sein. Die erwirkte Freiheit von Not, Krieg und Furcht bzw. die gemeinsame Schaffung von Allgemeinwohl, Frieden und sozialer Zuversicht bedingt oder schafft die Freiheit des Willens. Die Realisierung menschenwürdiger – globaler, lokaler und individueller – Lebensbedingungen steht auf der gesellschaftlichen Tagesordnung. An diesem Punkt befinden wir uns.

„Der Forschung Der Lehre Der Bildung“ ist das Leitmotto über dem Eingangsportal des Hauptgebäudes der Universität und in jedem Logo der offiziellen Schreiben dieser öffentlichen Einrichtung zu finden. Der Einheit dieses Mottos ist die Universität verpflichtet.

Dazu gehören unfraglich die Präsenzlehre, der Diskurs in den Seminaren, die Fachbereichsbibliotheken, die Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, die Mensen, die Wohnheime (auch die Sporthallen und Clubräume) des Studierendenwerks sowie das offene und lebendige Campusleben – ebenso die studentische Interessenvertretung und die akademische Selbstverwaltung für die eigenständige Gestaltung der Hochschule. Dieser Zusammenhang, der immer – sozial, finanziell, demokratisch und kulturell – zu verbessern ist, schafft die Bedingungen der Begegnung und des Austausches, die für die Entwicklung gesellschaftlich verantwortlicher Wissenschaften respektive die Entfaltung mündiger Persönlichkeiten lebenswichtig sind. Die wissenschaftliche Bildung (auch Ausbildung) ist mithin systemrelevant.

Diesen Zusammenhang neu bewußt wieder zu konstituieren und zu gestalten, nach der durch den Shutdown bedingten Schließung der Uni bzw. ihrer Reduktion auf Digital-Lehre und Prüfungen, ist eine dringende aktuelle Aufgabe.

Die bekannten Sicherheitsmaßnahmen vorausgesetzt, kann das Bedürfnis nach Entfaltung und Gestaltung (der verantwortungsvolle freie Wille) gemeinschaftlich bestimmt seinen Ausdruck finden. Der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen – in all seinen kulturellen Ausdrucksformen.

Seien wir menschlich.

Der plötzliche Spaziergang

(Franz Kafka, 1913.)

Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, — dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.