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Dokumentation von Grundsatzpapieren zur Arbeit des Akademischen Senats aus dem Jahr 2006

„Zum Geleit“ - Die Grenzen der Duldung und der erforderliche Richtungswechsel

„Die Welt ist durch die konsequente Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation in eine geschichtliche Phase eingetreten, in der sogar der physische Bestand der Menschheit davon abhängen wird, ob es uns gelingt, eine Verkettung von Problemen zu lösen, die prinzipiell neu, die ohne Beispiel sind. Das Denken, das Vermögen der Vernunft, ist in einer neuen Gestalt, die wir erst lernen müssen, zur schieren Existenzbedingung geworden; dies ist das innerste Resultat von jenem qualitativen Sprung unserer Geschichte, den wir erfahren, aber noch kaum zu begreifen vermögen. Vom Denken hängt unser Überleben ab, wir haben, wie Weizsäcker sagt, die Verpflichtung zum Denken. Wir brauchen das Denken in vielerlei Gestalt.“

Georg Picht, Laudatio für Carl Friedrich von Weizsäcker, Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt 1963.



Inhalt

0. Editorial
I. Geleit XVII - Wer sich umdreht oder gar lacht ...
II. Geleit XVIII - Masse ist Klasse
III. Geleit XIX - Mit Respekt, eine Würdigung
IV. Geleit XX - Neue Etappe oder Kritische Vernunft ist immer richtig
V. Geleit XXI - Aus dem Alltag heraus oder Der geweitete Horizont
VI. Geleit XXII - Dringend vermeidbare Fehler oder Das Richtige ist die Ablehnung des Falschen
VII. Geleit XXIII - Der erfreuliche Ernstfall: Frieden
VIII. Geleit XXIV - Immer: Nachdenklich Handeln. Aufatmen durch die Frage: Warum?
IX. Geleit XXV - Sinn und Form oder Literatur muß immer erlaubt sein
X. Geleit XXVI - „Ich“ respektive Der Irrtum der übergeordneten Besonderheit
XI. Geleit XXVII - Die Grenzen der Duldung und der erforderliche Richtungswechsel
XII. Geleit XXVIII - Sind Gebühren der Entwicklung gebührend?


0. Editorial

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

in dieser Broschüre dokumentieren wir (Liste LINKS, harte zeiten - junge sozialisten, Fachschaftsbündnis) unsere publizistische Reihe „Zum Geleit“ aus dem Jahr 2006. Diese Grundsatzdokumente bringen zum Ausdruck: Das Allgemeine - Ökonomie, Politik, Kultur, Geschichte - ist stets (hochschulpolitisch) praktisch und persönlich relevant.
Die Frage „Krieg oder Frieden?“, also militärische, soziale und kulturelle Roheit oder Zivilisation dominiert gesellschaftlich wie universitär die Auseinandersetzungen des vergangenen Jahres. Die zweifelhafte Wahl der konservativen Uni-Präsidentin Monika Auweter-Kurtz ist dafür signifikant.
Die Standortpolitik bringt, international und lokal, nichts Gutes. Die „Wachsende Stadt“ ist geprägt vom Verkauf der Landeskrankenhäuser, fiskalischer Gängelung von Bildung und Kultur, zerschlankter Verwaltung, verkommener Verkehrsinfrastruktur, Armut und rigider Ordnungspolitik. Die Universität ist infolge neoliberaler Deformen (fortgesetzter Geldmangel, Personalknappheit, Entdemokratisierung und ein wirtschaftsfrommer Hochschulrat, verschultes Studium mit BA/MA und STiNE, bankenfreundliche Studiengebühren sowie bauliches Chaos) und noch unzureichender oppositioneller Praxis ebenso in einer tiefen Krise.

In dieser Lage verweisen die „Geleite“ auf die Alternative zur gereizten Abwendung, zum Abarbeiten und Durchhalten in diesem negativen gesellschaftlichen und politischen Rahmen. Die künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Hervorbringungen vergangener Epochen fordern heraus zur bewußten Opposition der Universität. Begründet aus dem Wirken für allgemein nützliche Wissenschaft muß für die bedarfsgerechte öffentliche Finanzierung von Hochschule und Studium und die demokratische Partizipation aller Universitätsmitglieder politisch gestritten werden. Die Verständigung der Universitätsmitglieder über den zunehmenden Ärger und die analytisch-kritische und produktive Kontroverse über Ursachen, Wirkungen und die Möglichkeiten der Beendigung der Übel ist dafür nötig. Das politische Engagement für die gesellschaftliche Verallgemeinerung nützlicher Einsichten erhellt das gemeinsame Leben und Arbeiten. Die Universität sei ein Ort aufgeklärter Wissenschaft, der Zivilität, echten Fortschritts und gemeinsamer politisch-kultureller Entfaltung. Der Akademische Senat als das einzige gruppendemokratische Gremium der Gesamt-Universität, das nach den Konterreformen des Wissenschaftssenators erhalten ist, hat dafür besondere Verantwortung.
In diesem Sinne wünschen wir eine aufschlußreiche Lektüre und eine gute Übersicht bei der Wahl.


I. Zum Geleit XVII

Zur AS-Sitzung am 19. Januar 2006

Die Wiedereinführung von Studiengebühren ist ein zivilisatorischer Bruch nach 1968. Errungenes soll zerstört und entwertet werden. Scharfe politische Opposition der Universität ist angesichts des im Januar 2006 vorgelegten Gebührengesetz-Entwurfs erforderlich. Aber das Präsidium und zum Teil die Mitglieder des Akademischen Senats schwanken, ob das Übel nicht lieber mitgestaltet werden soll. Der AS bleibt bei seinem „Nein“ zur Gebühr und ermutigt das Präsidium zu einer kritischeren Haltung; dafür aber muß sich die historische Dimension dieser bildungspolitischen Kontroverse immer wieder neu vergegenwärtigt werden:

Wer sich umdreht oder gar lacht ...

1) Was ist eigentlich Erkenntnis?

„Was bin ich? Was soll ich tun? Was kann ich glauben und hoffen? Hierauf reduziert sich alles in der Philosophie. Es wäre zu wünschen, man könnte mehr Dinge so simplifizieren; wenigstens sollte man versuchen, ob man nicht alles, was man in einer Schrift zu traktieren gedenkt, gleich anfangs so entwerfen könnte.“ (81)

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), „Einfälle und Bemerkungen“, „Vermischte Schriften“.

Der Mensch schafft am besten sich selbst, indem er gegen rückwirkende Widerstände zivilisierend für eine höhere Kultur der Gemeinschaft kämpft. Dies tätig zu erkennen, ist wissen und hoffen in einem. Die grundlegende Rivalität zwischen Einengung und Entfaltung ist nicht entschieden. Der Sinn des Guten steht auf der richtigen Seite.
Wer traut sich, das einfache Wahre zu Ausdruck zu bringen?

2) Über den falschen Umgang mit Drohungen

„Erste Frage: Halten Sie es für richtig, daß der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?
Hier erntete ich zum ersten Male die Früchte meiner Nachdenklichkeit und schrieb ohne Zögern hin: ›Selbst vier Arme, Beine, Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.‹
Zweite Frage: Wieviel Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?
Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer Gleichung ersten Grades. ›Wenn es nur sieben Telefone sind‹, schrieb ich, ›werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich vollkommen ausgelastet.‹
Dritte Frage: Was machen Sie nach Feierabend?
Meine Antwort: ›Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr - an meinem fünfzehnten Geburtstag strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat.‹“

Heinrich Böll, „Es wird etwas geschehen/Eine handlungsstarke Geschichte“, 1954.

Selbst der findig vorauseilende Gehorsam ist ein vermeidbares Schwerübel und hat bislang häufig viel Schaden angerichtet. Auf falschem Einverständnis sind schon fatale Reiche aufgebaut worden. Die Satire ist ein möglicher Modus notwendiger Distanz. Durch die geschaffene Entfernung zu den restriktiven Geboten entsteht die freundliche Nähe zur Vernunft.
Wer verbietet sich befreiende Heiterkeit?

3) Erinnern für die Zukunft

„Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und der Zweck der Menschheit ist kein anderer, als der Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, daß alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln; hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und ihrer Art noch so vollkommen sein.“

Flugblatt der „Weißen Rose“.

Sogenannte Sachzwänge haben nur Bestand durch ihre gedankliche Verdopplung, die die Handelnden zu Sklaven ihrer irrigen Auffassungen macht. Alle Irrenden halten sich dabei für originell. Der lachende Dritte dabei ist der Despot Mammon, der Vater des Krieges.
Die Quelle des Friedens ist der praktische Wille zur Erleichterung der menschlichen Existenz. Mehrheiten sind gewinnbar.
Wer hat den Mut zum eigentlichen Ernstfall?

4) Über den zuträglichen Umgang mit Drohungen

„Der Gedanke, den wir gedacht, ist eine solche Seele, und er läßt uns keine Ruhe, bis wir ihm seinen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Und wunderbar! der Mensch, wie der Gott der Bibel, braucht nur seinen Gedanken auszusprechen, und es gestaltet sich die Welt, es wird Licht oder es wird Finsternis, die Wasser sondern sich von dem Festland, oder gar wilde Bestien kommen zum Vorschein. Die Welt ist die Signatur des Wortes.“

Heinrich Heine, „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“/Drittes Buch, 1852.

Geist und Tat bilden eine unumstößliche Einheit, wenn der gedankliche Mut zur Tat der Verbreitung von folgenreichen Einsichten wider die raunenden Zweifel gefaßt ist.
Die Verwandten im Geiste werden sich praktisch einstellen. Wer sich Gedankenfreiheit nimmt, wird sie auch anderen geben. Das Verfahren wird Verbreitung finden. Kecke Weise haben einst bemerkt, daß die Träger von richtigen Einsichten schwerlich aufzuhalten seien.
Sind hier Verlustängste angebracht?

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 11. Januar 2006


II. Zum Geleit XVIII

Zur AS-Sitzung am 09. Februar 2006

Seien alle Menschen gleich? Ist deshalb soziale Gleichheit und egalitäre demokratische Partizipation anzustreben? Oder ist „Auslese eine anthropologische Grundkonstante“? So wird im Akademischen Senat diskutiert. Hindernd wirkt hier die permanente Entwürdigung von Wissenschaft und Wissenschaftlern, die sich marktfeil präsentieren sollen, auf die offene Diskussion wider die Gebühren und der (demokratischen) Grundordnung der Universität. Der Status-Dünkel einzelner und die unbestimmte Furcht anderer vor den Konsequenzen oppositionellen Handelns sind ein Hemmnis, wenn es heißen sollte:

Masse ist Klasse

1) Alltäglich offenen Sinnes

„Ich komme vom Christkindelsmarkt: überall Haufen zerlumpter, Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.“

Georg Büchner, Brief an die Familie; Straßburg, den 1. Januar 1836.

Armut ist kein Naturphänomen. Hier waltet kein großer Hugo, sondern gemeinschaftliches Menschenwerk, änderungswürdig. Wer von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ spricht, hat Gründe dafür, die widerlegbar sind. Wissen schaffen setzt voraus, nicht wegzuschauen. Arzt und Patient sollten dieselben Anliegen vertreten. Hoher Genuß ist das Fehlen von Armut. Dann kommt alles andere. Später mehr davon.

2) Verdrängung ist Murks

„Nehmen Sie es als Dichterutopie,- aber alles in allem ist der Gedanke nicht unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst und des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstellung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht notwendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewußten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissenschaft angesprochen werden könnte.“

Thomas Mann, „Freud und die Zukunft“, 8. Mai 1936.

Die Verdrängungen - die vermiedenen Möglichkeiten - sind Folge der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Gebote zur Vermeidung eigener und gemeinsamer Vermenschlichung werden aus der undurchschauten Angst vor persönlichem Wertverlust nach herrschenden Maßstäben stets bänglich befolgt. Das ist das Gegenteil von „Größe“. Werden die engenden Maßstäbe hinterfragt, gelingt die Befreiung. Unwissenheit und Haß sind schlechte Ratgeber.

3) Nein; ja, aber; ja?

„Die SPD hatte Wichtigeres zu tun; wenn in Deutschland ein Unheil im Anzug ist, dann steht die Bonzokratie dieser Partei da und setzt durch, daß im § 8 des Unheils statt »muß« die Worte »soll nach Möglichkeit« stehen. Es sind wackere Parlamentarier.“

Kurt Tucholsky, „Die Keuschheitsgürteltiere“, 1930.

Demokratie ist die begründete bzw. überzeugende Verwirklichung des entwickelt humanen Nutzens.
Nützlich ist: Heiterkeit durch allgemeine Wohlfahrt.
Wer daran teilnimmt, nennt sich Mensch.

4) Das Gegenteil der Verneinung

„Die noch keine Kugel haben sausen hören, sagen:
Es ist schön, zu schießen. Das soll bedeuten, wenn sie
Einmal die Kugeln sausen hören, werden sie
Immer noch sagen: Krieg
Ist schön?“

Bertolt Brecht, „Die Jugend und das Dritte Reich“, Svendborger Gedichte 1939.

Die notwendige Beseitigung der Maschinerie, die dem Zweck der puren Zerstörung - Verneinung - dient, wächst zur Größe einer unumgänglichen Verantwortung und Aufgabe.
Die Vernunft erhält damit Sinn und Ziel.
Nur die Mehrheit ist dieser Verschrottung der Selbst-Negierung gewachsen. Die meisten zu erreichen und zu bewegen, sei Anliegen der einzelnen. Wissenschaft mag Teil der Mehrheitsbildung sein.
Masse ist Klasse.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther,
Hamburg, den 01. Februar 2006


III. Zum Geleit XIX

Zur AS-Sitzung am 09. März 2006

Wer kein Esel sein will, der lernt aus dem progressiven Erbe der Universität, das zu verwirklichen ist: humanistische und besonders international friedensfördernde Wissenschaften sowie die sozial offene, demokratisch-egalitäre und kollegiale Selbstorganisierung von Lehre, Studium und Forschung. Diese Ansprüche sind mit den positiven historischen Zäsuren von 1945 und 1968 eng verbunden. In diesem Bewußtsein haben die in den „Ruhestand“ zu verabschiedenden Kollegen, Herr Delmas und Herr Hartmann, hilfreich und engagiert in der Universität gewirkt; sie sollen es weiter tun! - Es ist,

Mit Respekt, eine Würdigung.

„Und die Leute werden uns schon verstehen, wenn wir ihnen sagen, daß sie in der Folge alle Tage Rindfleisch statt Kartoffeln essen sollen und weniger arbeiten und mehr tanzen werden. - Verlassen Sie sich darauf, die Menschen sind keine Esel. - “

Heinrich Heine an Heinrich Laube; Paris, den 10. Julius 1833.

Liebe Mitwirkende im Akademischen Senat,

manchmal ist es sehr sinnvoll, innezuhalten.
Die zwei, die wir besonders meinen, fühlen sich sicher angesprochen.
Alle anderen sind selbstverständlich mitzuklingen mitgemeint.

Wider den rauh über die Ufer gestiegenen Hauptstrom, der wertvolle Kulturen lieblos überschwemmt, haben Sie die eigenen Wurzeln der Humanität, an denen häufig häßlich gezerrt wurde, niemals geleugnet.
Von diesem Grunde aus wirken unbedingte Demokraten mit einem untrüglichen sozialen Gewissen und einem ausgeprägten Sinn für einen fairen, hilfreichen Alltag.
Wissenschaft ist Ihnen die eigene systematische Erkenntnisfreude, die fördernde Vermittlung an die Mitmenschen, das Engagement für die akademische Institution sowie die entsprechende Verant­wortung für die soziale Gesellung. Sprache bedeutet in diesem Zusammenhang Wahrheitsfindung, bewegende Mitteilung und Kunstgenuß. Hie und da ist Verschmitztes mit im Spiel.
In dieser Weise figuriert der Mensch als vitales Wesen mit gemeinschaftlichem Sinn und kultivierter Seele.
Dieses Engagement über Jahrzehnte ist in Gold nicht zu wiegen, auch wenn drumherum mit absurden Verrenkungen unter lauten Klängen (Krach) das symbolisch geformte Edelmetall umrundet wird.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist erfolgreich zu wünschen, daß Sie der Universität weiterhin freundlich und tatenreich verbunden bleiben.
Mit diesen Worten sind zwei erfreulich unterschiedliche Menschen gleich gemacht.
Wir hoffen, Sie sehen uns dies gütig nach.
Wir möchten, Ihnen, Herr Delmas und Herr Hartmann, danken.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 01.03.2006


IV. Zum Geleit XX

Zur AS-Sitzung am 13. April 2006

Es beginnt eine neue Legislatur für den Akademischen Senat, und mit der Wahl der Nachfolge des Universitätspräsidenten Jürgen Lüthje wird es langsam ernst. Frieden, Antifaschismus und ein Grundverständnis menschlicher Egalität zur politisch-sozialen Orientierung für die Universität, das Gremium und das Amt sind unverzichtbar. Der Akademische Senat kann in diesem Sinn streckenweise auf positives eigenes Wirken zurückblicken. Auf der Gegenseite zerren CDU-Senat, Hochschulrat und angeheuerte Unternehmensberater an den Zügeln. Darum sollte das einmal als richtig Erkannte nicht revidiert, sondern reflektiert und weiterentwickelt werden:

Neue Etappe
Oder: Kritische Vernunft ist immer richtig

1) Die Wahl

„Nun geht es weiter, nächste Episode! Fragt sich nur, in welche Richtung es weitergeht. Dies hängt von uns ab; an jedem Wendepunkt hat man die Wahl. (...)
Es wird ein Jahrhundert der beginnenden Welt-Zivilisation oder es wird das Jahrhundert der beginnenden Welt-Barbarei - wenn nicht schon gar der vollendeten. Der Zusammenbruch käme plötzlich und könnte kompletten, endgültigen Charakter haben. Die positive Entwicklung nimmt sich Zeit und bleibt unvollkommen.“

Klaus Mann, „Der Wendepunkt“, 1945, S. 509 ff.

Nach dem größten menschlichen Desaster von Diktatur, Massenvernichtung und Krieg waren die Erwartungen an Frieden, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Kultur und die zivile Entwicklung der Völkergemeinschaft enorm. Diese Hoffnungen hat auch Klaus Mann dialektisch - das heißt auch warnend vor dem Gegenteil - appellativ formuliert.
Der Akademische Senat und die geladenen Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben mit der universitären Veranstaltung zum 60 Jahrestag der Wiedergründung der Universität diesen Erwartungen und Hoffnungen würdig diskursiv Ausdruck gegeben.
Diese Maßstäbe sind alltagsrelevant.

2) Die Qual

„Ja, wie im Mittelalter alles, die einzelnen Bauwerke ebenso wie das ganze Staats- und Kirchenge­bäude, auf den Glauben an Blut beruhte, so beruhen alle unsere heutigen Institutionen auf den Glauben an Geld, auf wirkliches Geld. Jenes war Aberglauben, doch dieses ist der bare Egoismus. Ersteren zerstörte die Vernunft, letzteren wird das Gefühl zerstören. Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird einst eine bessere sein, und alle Herzen Europas sind schmerzhaft beschäftigt, diese neue bessere Basis zu entdecken.“

Heinrich Heine, „Die romantische Schule/Drittes Buch“, 1835.

In der mit Macht betriebenen Ökonomisierung öffentlicher Institutionen mischen sich die Elemente des Aberglaubens, des Blutes und der heiligen Rangordnung mit denen des kühlen Kalküls utilitaristischer Rechenleistungen - Talare, Ehrfurchtsstaub und simpelste Betriebswirtschaft. Milchmädchen können dazu lachen.
Hier sind Verstand und Gefühl gefragt, eine neue bessere Basis zu entdecken und zu schaffen.

3) Die neue Legislatur

„Tui Hoo hatte keinen Respekt vor Denkmälern. Nicht etwa, weil sie feist waren und rotlackierte Fingernägel hatten - nein, Tui Hoo war kein Spießbürger, der sich über seinen Nachbarn aufregte, weil er einen komischen Hut trug. Er verkehrte häufig mit Damen, die Zigarren rauchten und heiser waren wie Gieskannen, oder mit Männern, die Ohrringe trugen und deren Hosenbeine weit waren wie Frauenkleider. Nein, kleinlich war Tui Hoo nicht.“

Wolfgang Borchert, „Tui Hoo“.

Nein, kleinlich ist die Arbeit und sind die Beschlüsse des Akademischen Senats (AS) nicht.
Die Grundordnung setzt auf den kooperativen Zusammenhang der Universität sowie die (so weit in den mißbilligenswerten Bedingungen möglich) demokratische Partizipation der Uni-Mitglieder.
Der AS lehnt Studiengebühren ab und artikuliert den Anspruch der sozialen Offenheit des Studiums.
Die wissenschaftliche Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung ist eine wesentliche Aussage des „Leitbildes“ der Universität; dieses schließt das Engagement für eine friedliche Welt ein.
Die aktuelle Arbeitsperiode fußt auf diesen zu verwirklichenden Grundsätzen und Absichten.
Es fehlt nur noch ein bißchen Wind. Wasser unter dem Kiel ist vorhanden.

4)

„›Das Gesetz in seiner erhabenen Gleichheit verbietet Armen und Reichen, unter Brücken zu schlafen‹ - sagt Anatole France.“

Kurt Tucholsky, Handelsteil, 1929.

Die Anteilnahme bringt die Unzufriedenheit auf die richtige Bahn.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 4. April 2006


V. Zum Geleit XXI

Zur AS-Sitzung am 11.5.2006

Die hochschulpolitischen Konflikte (Unterfinanzierung, Gebühren, BA/MA ...) sind hart, die Konkurrenz um Fördertöpfe „fördert“ vor allem die Selbstkommerzialisierung der Wissenschaften. Der inneruniversitäre Kleinkrieg wütet, obwohl die Verursacher der schwerwiegenden Übel, Handelskammer und CDU-Senat, leicht auszumachen sind. Gegen sie müßte sich die Universität wenden. Aber die notwendige Opposition ist blockiert durch die Verteidigung fadenscheiniger Privilegien und lang vollzogene persönliche Kapitulationen vor dem geschäftsmäßigen „Zeitgeist“. Drum heißt es:

Aus dem Alltag heraus
Oder: Der geweitete Horizont

1) Erinnerung ist Zukunft

„Ein großes Muster weckt Nacheiferung
Und gibt dem Urteil höhere Gesetze.“

Friedrich Schiller, Prolog zum „Wallenstein“, gesprochen bei der Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar im Oktober 1798.

Nicht nur die „Klassiker“ aus bewegten und bewegenden Zeiten, in denen vieles entstand, was uns - verschüttet zwar - als selbstverständlich erscheint; nicht nur die Erinnerung aus besseren Zeiten, in denen alle mehr als minder erfreulich vorangekommen sind; nicht nur das Beibehaltene, sondern auch - manchmal - der unzufriedene Blick in den Spiegel ist ein untrüglicher Hinweis auf eine verärgernde Gegenwart und mithin bessere Zukunft. Der produktive Ärger speist sich aus dem Vergleich.

2) Das Wider-Gute
und das widerschlechte Gute

„Wenn der Mensch ›Loch‹ hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.“

Kurt Tucholsky, „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“, 1931.

Die Propaganda der Unmenschlichkeit ist nicht zimperlich.
Bei allen gewichtigen Unterschieden der Gegenwart zu schlimmsten Zeiten, sind die Warnsignale aus der ungefesselten Barbarei Merkmale für das vernünftige Widerstehen. Geschichte - so oder so - ist nicht tot.
Krieg sei Frieden, autoritär sei demokratisch, asozial sei allgemein wohl, Konkurrenz sei natürlich. Wie schon gesagt: Die Propaganda der Unmenschlichkeit ist nicht zimperlich.
Die hier Widerstehenden sind gemeinsam vernünftig und kehren auf höherer Stufenleiter zu 1) zurück.

3) Worte

„Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst - ›besprechen‹ hat eine tiefe Bedeutung.“

Kurt Tucholsky, „Mir fehlt ein Wort“, 1929.

Es heißt an schöner Stelle, daß ein Begriff bei dem Worte sein müsse.
Gespiegelt ähnlich viel gilt aber auch, daß ohne Worte keine Begriffe zu bilden sind.
Das bedachte Sprechen über Ungemach ist der Weg zu einem höheren Verständnis von Lösungen, Handlungsabsichten und das Verlassen der Isolation. Der erste entscheidende Schritt ist getan.
Worte sind so mehr als „nur“ Worte.

4) Taten

„Nur das geistige Gewissen hält Stand - wenn ein gefühls- und gewohnheitsmäßiges Pflichtgefühl schon längst nachläßt.“

Heinrich Mann, „Die Macht des Wortes“, 1935.

Pures und schlichtes Durchhalten ist nach und nach abgenutzt.
Das getriebene Mitmachen findet sich schleichend ein.
Der vermeintliche eigene Vorteil werkelt dauerhaft gnadenlos gegen die eigene Würde.
Ein wieder neues Bewußtsein für die eigene Verantwortung gibt die Freude aus der Gefangenschaft frei.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 03.05.2006


VI. Zum Geleit XXII

Zur AS-Sitzung am 1.6.2006

Das sogenannte Studienfinanzierungsgesetz zur Erhebung von Studiengebühren wird in der Bürgerschaft verhandelt. Die erste Lesung ist im Parlament schon absolviert; die Proteste sind entsprechend begründet heftig. Die welt-, stadt- und hochschulpolitische Lage ist insgesamt alles andere als beruhigend. Der Akademische Senat muß sich den Problemen stellen, die aus den zahlreichen negativen Umstrukturierungen in Verwaltung, Studium und Lehre folgen. Professorale Überforderung mit dieser Lage soll zuweilen unfreundlich kaschiert werden. Kein schöner Anblick. Insbesondere, da der politische Senat durch öffentlichen Unmut über seine Untaten schon angezählt ist. Deshalb:

Dringend vermeidbare Fehler
Oder: Das Richtige ist die Ablehnung des Falschen

1) Das Konkrete ist allgemein

„Die Möglichkeit
Liegt der Irrtum nur erst, wie ein Grundstein, unten im Boden,
Immer baut man darauf, nimmermehr kömmt er an Tag.“

Friedrich Schiller/Wolfgang Goethe, „Xenien“, Musen-Almanach 1797.

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Zinsen
„Gebühren“

2) Geschärfte Aufmerksamkeit

„Es ist mit dem Witz wie mit der Musik, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man.“ (220)

Georg Christoph Lichtenberg, "Einfälle und Bemerkungen", Heft D, 1773-1775.

Wolfgang Beuß (CDU), derzeitiger Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses der hamburgischen Bürgerschaft, hat in der öffentlichen Anhörung des nämlichen Ausschusses zum sogenannten Studienfinanzierungsgesetz die Darlegungen der anwesenden Öffentlichkeit unterbrochen, weil ihm die Gründe gegen Studiengebühren nicht mehr erträglich waren. Ein Witz?
Die CDU steckt in einer veritablen Krise. Mehr davon. Mit allen Verfeinerungen. Der Rest mag eine Wende sein.

3) Dringend vermeidbare Fehler

„Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fieber haben: dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen.“

Kurt Tucholsky, „Rezepte gegen Grippe“, 1931.

Das heutige hohe bis höchste Fieber ist das sogenannte Börsenfieber. Es ist eine globale Erscheinung. Es basiert auf einem bestimmten wie bestimmbaren System von Fabriken und Banken und darauf, daß die Spekulation auf alle abstrakten Wert-Steigerungen dynamisch-rauschhaft praktiziert wird.
Die konkreten Folgen sind: Krieg, Elend und eine neue Designer-Uhr.
Der Reichtum von allen für alle ist die Heilung.

4) Die zu klärende Zuckererbsenfrage

„Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.“

Heinrich Heine, „Deutschland - Ein Wintermärchen“, Caput I, 1844.

Emanzipation?
Wir fürchten, das Ding läßt sich ganz und gar nicht kaufen!
Courage?
Wir nehmen an, Charakter läßt sich lernen.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 24. Mai 2006


VII. Zum Geleit XXIII

Zur AS-Sitzung am 13. Juli 2006

Nun ist es heraus: Die nicht gerade demokratische Findungskommission für die Uni-Präsidentschaft schlägt die Raketenforscherin Prof. Monika Auweter-Kurtz dem Hochschulrat zur „Wahl“ vor; selbst wenn letzterer sie nominiert, kann der AS ihre Bestellung noch verhindern. Fast gleichzeitig wird das „Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung“ an der Universität Hamburg eröffnet, wird dem friedenspolitisch engagierten Wissenschaftler Wolfgang Panofsky die Ehrensenatorenwürde angetragen und eskaliert der Konflikt im Nahen Osten. Der gesellschaftliche Grundkonflikt Krieg oder Frieden ist nun für alle erkennbar in der Universität angekommen. Was ist zu tun?

Der erfreuliche Ernstfall: Frieden

1) Die kulturelle Dimension

„Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot.
Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.
Warum nicht, fragte der Soldat.“

Wolfgang Borchert, „Lesebuchgeschichten“.

Der Mensch verneint sich selber durch die Roheit der gezielten Zerstörung, die seelenlos vonstatten gehen soll, aber tiefe Spuren hinterläßt. Die Folgen zeigen ihren Ursprung an.
Die Wahrheit stirbt - üblicher Weise - vor dem Kriege; in dem Krieg ist nach der Wahrheit; nach dem Krieg ist vor der Wahrheit; nach der Wahrheit ist vor dem Frieden.

2) Aufgeschoben ist weniger als bewältigt

„Das Signal steht seit drei Jahrhunderten auf Freie Fahrt, aber nicht weil die Grundfragen gelöst wären, sondern weil wir gelernt haben, sie im Alltag unserer Arbeit auf sich beruhen zu lassen. Philosophie jedoch könnte man vielleicht definieren als den nicht ruhenden Willen, die Grundfragen zu stellen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker, „Große Physiker, Von Aristoteles bis Werner Heisenberg“, Immanuel Kant, (herausgegeben von Helmut Rechenberg), Wiesbaden 2004, S. 183.

Die Grundfragen sind nicht in jeder Minute zu reflektieren, zu erörtern beziehungsweise neu zu beantworten - aber ohne schon beantwortete Grundfragen wäre der Mensch nicht handlungsfähig, ohne zu beantwortende Grundfragen hätte der Mensch keine Zukunft.
— Ist die Erde (wieder) eine Scheibe?
— Handelt es sich bei der Fußballweltmeisterschaft um ein reales Vergnügen?
— Haben die Wissenschaften eine Verantwortung für das soziale Wohlbefinden?
Die Antworten verlangen mehr als nur kurzzeitige Aufmerksamkeit.

3) Vorausschauende Erkenntnis

„ ... - so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man einen Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann, der vom Friedensvertrag (pactum pacis) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte. (...) - Die Ausführbarkeit (objektive Realität) dieser Idee der Föderalität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen Frieden hinführt, läßt sich darstellen.“

Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden/Ein philosophischer Entwurf“, Zweiter Abschnitt/Die definitiv Artikel, 1795.

Zu den wesentlichen Zielen der nach Diktatur und Weltkrieg 1945 gegründeten UNO gehören der Gewaltverzicht, die Erhaltung des Weltfriedens, die Regelung von Streitfällen mit friedlichen Mitteln und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen auf der Grundlage der Gleichberechtigung.
Die Momente und Bedingungen des positiven Friedens sind hier als die Förderung der Menschenrechte und der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklung sowie Zusammenarbeit gefaßt.
Foedus pacificum.

4) Der erfreuliche Ernstfall: Courage

„Ohne Zukunftsvision ist es schwierig, tragfähige Konzepte zu entwickeln, die über das Entscheiden auf case-to-case-Basis hinausgehen. Der Politik fehlt es an Rückgrat gegenüber den klar definierten Interessen der Wirtschaft und die Politiker neigen zu Wankelmütigkeit, um nicht zu sagen: zum Opportunismus.“

Juli Zeh, Nonstop Konsens, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 26, 30. Juni 2006, S. 17.

Auch ohne die sogenannte Miesmacherei läßt sich konstatieren, daß ein mehrzehnfacher potentieller atomarer Overkill und der jährliche Etat der EU-Staaten von 180 Milliarden Euro für Rüstung und Streitkräfte von besorgnisgebender Dimension sind. Die materielle Bedrohung wächst.
Auch die Subjekte der Wissenschaften können mehr und mehr ihren Beitrag zur Überwindung der Kluft zwischen Friedensnorm und Kriegspraxis leisten.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 6. Juli 2006


VIII. Zum Geleit XXIV

Zur AS-Sitzung am 17. August 2006

Frau Prof. Auweter-Kurtz, die konservative Kandidatin mit dem mehrfach artikulierten Respekt für den Nazi-Raketen-Ingenieur Wernher von Braun (selbstredend nur für seine wissenschaftliche Leistung und nicht für die todbringende „Bestellung“ von Zwangsarbeitern) und mit dem spontanen Sinn für Hierarchie, ist tatsächlich zur Universitätspräsidentin gewählt worden. Mit 6 zu 9 Stimmen im Akademischen Senat hat sie kein gutes Ergebnis erhalten. Die Ja-Sager haben Grund sich zu fragen, ob Leichtfertigkeit Realismus ist. Die Opponenten haben Anlaß zu reflektieren, wie es dazu kam und was zu unternehmen ist. Auf jeden Fall, für alle und

Immer:
Nachdenklich handeln. Aufatmen durch die Frage: Warum?

1) Ziellose Fluchtneigung

„Der Fliegende Robert
Eskapismus ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter!—,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.“

Hans Magnus Enzensberger, „Die Furie des Verschwindens“, Gedichte, 1980.

Antiautoritär betrachtet, ist die Nach- und Neudichtung des „Fliegenden Robert“ ein Gewinn. Das Nichtachten kleiner Gefahren und großer mahnender Worte erhebt - insonderheit bei schlechtem Wetter - in die Lüfte.
Das Ziel der „Freiheit“ ist ungewiß. Robert fliegt und fliegt. Wann hört das „Sauwetter“ auf? Fragt den Regenmann.

2) Händewaschzwang!

„Wer weiß, ob man mitten im Symphoniekonzert nicht doch plötzlich auf die Toilette muß, oder ob man das Schloß beim Nachprüfen nicht irrtümlich aufgeschlossen hat? Der Vernünftige vermeidet daher scharfe Messer, öffnet Türen mit dem Ellenbogen, geht nicht ins Konzert und überzeugt sich fünfmal, daß die Tür wirklich abgesperrt ist. Voraussetzung ist allerdings, daß man das Problem nicht langsam aus den Augen verliert.“

Paul Watzlawick, „Anleitung zum Unglücklichsein“, 1983.

Autoritär betrachtet, ist Sicherheit als solche die höchste Kategorie. Man bewegt sich kerzengerade innerhalb der Gesetze. Für Wohlbefinden sorgt die Polizei. Sorgen sterben einstweilen mit Likör. Alles und alle sind eine Bedrohung. Wer keine Ordnung hat oder in ihr nicht oben steht oder nicht jemanden unter sich hat oder keine drei Zahnpastasorten (abends, morgens und einmal die Woche), geht gnadenlos unter. Sympathie ist ein Grauen.

3) Schicksal?

„Eine Partei, die neben dem Glauben an die Gesetze auch den Adel verwerfen würde, hätte sofort das ganze Volk hinter sich, aber eine solche Partei kann nicht entstehen, weil den Adel niemand zu verwerfen mag.“

Franz Kafka, „Zur Frage der Gesetze“, 1920.

Die Inszenierung des Realismus dient als Kulisse für die selbst verschuldete Hoffnungslosigkeit. Kafkas Paradoxien sind die Beweisführung für die Verneinung der suggerierten Gnadenlosigkeit.
Die Zwangsläufigkeit der Entfremdung ist zu knacken. Verhaftungen am Morgen finden nicht automatisch statt.

4) Zum Menschen

„Die industrielle Revolution brachte die Aufgabe mit sich, die Menschlichkeit im Lichte der unmenschlichen Maschinen zu bewahren.“

Sir Peter Ustinov, „Ein Wiedersehen mit Kaiser Nero“, 1999.

Die menschlich geschaffenen Reichtümer erfordern vernünftige Handhabung und Verteilung.
Ohne Licht laufen die Maschinen im Dunklen (Zwerge). Elend ist keine Naturkatastrophe. Sich dagegen zu wenden, hat eine klare rationale Tendenz, die auch andere ergreifen kann. Wer beginnt?

5) Zur Politik

„Die Zeiten sind längst vorbei, wo man das Menschliche in verschiedene Sphären eingeteilt sehen konnte, von denen die eine die politische war: eine Sonder-Sphäre, um die man sich nicht zu kümmern brauchte. Die Frage des Menschen, das Problem der Humanität steht längst schon als unteilbares Ganzes vor unseren Augen und ist als Ganzes dem geistigen Gewissen auferlegt.“

Thomas Mann, Ansprache zu Heinrich Manns siebzigsten Geburtstag, 2. Mai 1941 (auf einer nachgeholten Feier).

Politik ist kein „schmutziges Geschäft“, wenn sie frei ist von kleinlicher Vorteilsnahme (im Dienste der Herrschaft) und frei ist für (im Sinne der Emanzipation) Frieden, allgemeine Partizipation, soziale Sicherheit, kulturelle Entfaltung, die Verbreitung von Aufklärung, Freude und produktiven Streit.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther,
Hamburg, den 10. August 2006


IX. Geleit XXV

Zur AS-Sitzung am 21. September 2006

Dr. Dr. h.c. Jürgen Lüthje leitet zum letzten Mal eine Sitzung des Akademischen Senats. Bei allen ernsten Konflikten - vom Globalhaushalt über das Mäzenatentum bis zu den Studiengebühren - sind ein kritisches Geschichtsverständnis, Friedensorientierung und die Sympathie für Kunst und Literatur Verbindungspunkte in der gemeinsam gesamtverantwortlichen Mitwirkung an der Entwicklung der Universität. - Das kulturelle Erbe sei eine manifeste Herausforderung an die kritische Vernunft:

Sinn und Form
Oder: Literatur muß immer erlaubt sein

1) Die erzählte Welt

„Wer zu verzichten angefangen hat, ist auf Ungerechtigkeit festgelegt. Er muß dauernd neue Rechtfertigung für seinen Verzicht aus seiner Umwelt ziehen. Dahin ist die Ehrlichkeit.“

Christa Wolf, „Lesen und Schreiben“, 1968.

Wer nicht verzichten will, auch und gerade auf seine Mitmenschen und ihr Wohl nicht, das ein gemeinsames Wohl sein soll, der ist auf Gerechtigkeit und mehr orientiert; der will verstehen, neigt zur unbändigen Unzufriedenheit gegenüber den allemal vermeidbaren Erniedrigungen, sucht nach leitenden Gedanken, plastischen Deutungen, aufschlußreichen Figuren, mitziehenden Geschichten, anderen Möglichkeiten, Helligkeit im Trüben, eröffnenden Taten, unweigerlich Mitwirkenden - und liest... Hier ist Ehrlichkeit ein Prozeß.

2) Vom Besteigen hoher Berge

„Hans Castorps Geschichte ist die Geschichte einer Steigerung; ein simpler Held wird in der fieberhaften Hermetik des Zauberbergs zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig gemacht, von denen er sich früher nie hätte träumen lassen. Die Geschichte seiner Steigerung ist aber zugleich Steigerung auch in sich selbst, als Erzählung. Sie arbeitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romanes, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert ud transparent macht. Die Figuren sind für das Gefühl des Lesers alle mehr, als sie scheinen: lauter Exponenten, Prinzipien und Welten.“

Thomas Mann, „On myself“, März/April 1940.

Wer Hans Castorp mittels des „raunenden Beschwörers des Imperfekts“ vor dem Ersten Weltkrieg in die kühlen Höhen der Schweiz begleitet, muß nicht krank werden, sieben Jahre Liegekur machen oder gar am Ende in den Krieg geworfen werden.
Diese schneereiche bürgerliche Weltflucht ist ein üppig-ironisches Dekadenzgemälde, ein reiches pädagogisches Erlebnis und ein breit geschildertes Plädoyer der errungenen Lebensfreundschaft sowie ein Nein zum Kriege. Lesen lohnt sich. Die Verbindung der gewonnen Einsichten zum Alltag ist sinnvoll und mitteilenswert.

3) Dialektik

„ich atme innerlich
aber die nasenlöcher
habe ich außen“

Ernst Jandl, „Letzte Gedichte“, Sammlung Luchterhand 2001.

Der Mensch ist unweigerlich mit seiner Außenwelt verbunden. Diese Verbindung konstituiert seine Existenz. In der bewußten Handhabung dieser Verbindung gewinnt er seine Souveränität. Demokratie atmet.

4) Vorankommen

„Das Ross und der Stier
Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein dreuster Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: Schande! von einem Knaben ließ ich mich nicht regieren!
Aber ich, versetzte das Roß. Denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzuwerfen?“

Gotthold Ephraim Lessing, Fabeln/Erstes Buch, 1759.

Gute Reise!
(Auch beim Lesen.)

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther,
Hamburg, den 15. September 2006


X. Zum Geleit XXVI

Zur AS-Sitzung am 26. Oktober 2006

Die BA-/MA-Studiengänge sind unerträglich, und unverträglich mit allem, was sich zurecht Wissenschaft nennt. Sie werden nun streng überwacht von STiNE, dem zweifelhaft braven Mädchen. Die Gebühren hängen über allen. Mit diesem Murks müßte endlich Schluß gemacht werden. Dafür ist historisches Bewußtsein, Oppositionsgeist (und -tat) sowie kritische Verständigung dringend von Nöten. Aber auf dieser aussichtsreichen Fährte lauert das tückische

„Ich“
respektive
Der Irrtum der übergeordneten Besonderheit

1) Der Mensch

„Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele sowie auch ein Vaterland, damit er nicht übermütig wird.“

Kurt Tucholsky, „Der Mensch“, 1931.

Nachdem wir nun auf wundersame Weise Papst geworden sind und die unverkrampfte Party mit den drei wehenden Farben - regional spezial: mit den blöden blauen Leuchttoren -, dem einen Ball und unseren elf Jungs vorbei ist, wird deutlich, was vorher schon allen klar war: nichts ist besser als vorher. Übermut ist bislang ebenfalls nicht zu verzeichnen. Deshalb sind einige Überlegungen angebracht.

2) Wagnis

„Demokratie war den Deutschen ein leerer Begriff. Unter dem Kaiser war das suspekt, demokratisch zu sein - und es hieß damals so viel wie heute ›bolschewistisch‹, nämlich, nach dem Wort des klugen Geheimrats Krüger: ›Bolschewistisch ist alles, was einem nicht paßt.‹“

Kurt Tucholsky, „Macht und Mensch“, 1920.

Demokratie als aufgeklärte Partizipation sozial verantwortlicher Subjekte, die sich in ihrer tätigen Gemeinsamkeit mit anderen selbst verstehen und als eigene Kultivierung kooperativ zur positiven Entwicklung der Bedingungen beitragen, Demokratie also auf Höhe der Zeit, wird meist recht klein geschrieben und bedarf dagegen einer Renaissance von Vernunft und Engagement.

3) Die Universität hat einen Ort

„Die Stadt Hamburg ist eine gute Stadt; lauter solide Häuser. Hier herrscht nicht der schändliche Macbeth, sondern hier herrscht Banko. Der Geist Bankos herrscht überall in diesem Freistaate, dessen sichtbares Oberhaupt ein hoch- und wohlweiser Senat.“

Heinrich Heine, „Memoiren des Herren von Schnabelewopski“, 1833.

Banko erhebt wieder stärker sein Haupt und schüttelt sein schütteres Haar. Der Senat bürstet derweil Bankos staubige Kleider.
Das Soziale flüchtet sich in die Ecke mit schlechtem Gewissen und raunt aufdringlich-schüchtern allen zu, sie mögen Gleiches tun.
Wer hier diesem schwach klingenden nachdrücklichen Appell folgt und sein Arrangement für besonders, geschickt und überlegen hält, leidet - nolens volens - Schaden an seiner Souveränität.

4) Ein Rückgriff in die Geschichte: Zukunft!

„Wir haben versucht, einzusehen, was Demokratie ist: sie ist der menschliche Ausgleich zwischen einem logischen Gegensatz, die Versöhnung von Freiheit und Gleichheit, der individuellen Werte und den Anforderungen der Gesellschaft. Dieser Ausgleich aber ist niemals vollendet und endgültig erreicht, er bleibt eine immer aufs neue zu lösende Aufgabe der Humanität; und wir fühlen, daß heute in der Verbindung von Freiheit und Gleichheit das Schwergewicht sich nach der Seite der Gleichheit und der ökonomischen Gerechtigkeit, vom Individuellen also nach der Seite des Sozialen verlagert.“

Thomas Mann, „Das Problem der Freiheit“, 1939.

Wenn die Bedrängungen hart werden, ist besonders hilfreich und menschlich, sich, über den Tag hinaus, mit widersprüchlicher Herkunft, widerstreitenden Möglichkeiten und erweitertem Ausblick, gemeinschaftlich zu begreifen. Die Universität hat eine maßgebliche politische Umgebung, die nicht so bleiben muß, wie sie ist.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 16. Oktober 2006


XI. Zum Geleit XXVII

Zur AS-Sitzung am 23. November 2006

Es ist die erste Sitzung der neuen Präsidentin. Die Probleme sind die gleichen. Welchen Sinn, welche Struktur, Perspektive und Entwicklung der Arbeit des Akademischen Senats stellt sich das Gremium vor? Wie weiter mit STiNE? Die Stimmung ist gedrückt, viele sind ratlos. Nicht weiter zurück ist noch kein „Vorwärts!“. Es bleibt dabei, daß alles anders (engagiert gestaltet) werden muß:

Die Grenzen der Duldung und
der erforderliche Richtungswechsel

1) Die eingebildete Stärke des Leidens

„So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen
viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt,
bei alldem aber meist in trüber Laune, die immer
noch trüber wurde dadurch, daß niemand sie
ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn
auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig?
Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn
bedauerte und ihm erklären wollte, daß seine Traurigkeit
wahrscheinlich von dem Hungern käme,
konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit,
geschehn, daß der Hungerkünstler mit einem
Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller
wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann.“

Franz Kafka, „Ein Hungerkünstler“, 1922.

Wenn die Sachzwänge sich im Kopfe stapeln und sie
Dir grinsend sagen, jetzt helfe nur noch Ausdauer,
gnadenlose Ausdauer, ja, dann folgt, wenn niemand
Halt! ruft, unweigerlich das große Märtyrer-Rennen.
Verlierer: Alle.

2) Wer siegt?

„Die Moritat von der großen Fusion: Eines Tages schlug das Huhn dem Schwein eine enge Zusammenarbeit vor. Das Huhn sprach also von Kooperation, es sprach von Fusion und es schwärmte von den Chancen, die darin stecken - nach einer ›gewissen Durststrecke am Anfang‹ freilich. Das Schwein hörte sich schweigend an, was das Huhn zu sagen hatte, und fragte dann, wie die Sache denn genau aussähe. ›Wir gründen die Firma ’ham and eggs’‹, sagte das Huhn. darauf das Schwein irritiert: ›Du bist verrückt, das bedeutet doch meinen sicheren Tod!‹ Das sei der Sinn der Kooperation, bemerkte das Huhn
trocken.“

Heribert Prantl, „Kein schöner Land/Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“, 2005, S. 89.

Die große Vorteilsnahme ist ein grenzenloses Werk
der Zerstörung.
Die Doktrin des Sozialdarwinismus veräzt die Freude
von Beginn an.
Wer siegt?

3) Reines Rechnen radiert am Charakter

„Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen
und ewig auf der Folter der Geschäfte zu
liegen; die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung.“

Friedrich Schiller, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt“, 1784.

Es heißt auch: Wer oder was sich rechnet, darf bleiben.
Wer oder was bleibt übrig? Auf welchen Rest
schrumpft die Persönlichkeit?
Das Elend wird durch seine korrekte Verwaltung
nicht besser.
Die Kunst hilft, sich heiter zu distanzieren.

4) Frei von ist frei für

„Und die neue Stadt, das ist die Stadt, in der die weisen
Männer, die Lehrer und die Minister, nicht lügen,
in der die Dichter sich von nichts anderem verführen
lassen, als von der Vernunft ihres Herzens,
das ist die Stadt, in der die Mütter nicht sterben und
die Mädchen keine Syphilis haben, die Stadt, in der
es keine Werkstätten für Prothesen und keine Rollstühle
gibt, das ist die Stadt, in der der Regen Regen
genannt wird und die Sonne Sonne, die Stadt, in der
es keine Keller gibt, in denen blaßgesichtige Kinder
nachts von Ratten angefressen werden, und in denen
es keine Dachböden gibt in denen sich die Väter erhängen,
weil die Frauen kein Brot auf den Tisch
stellen können, das ist die Stadt, in der die Jünglinge
nicht blind und nicht einarmig sind und in der es keine
Generäle gibt, das ist die neue, die großartige
Stadt, in der sich alle hören und sehn und in der alle
verstehn: mon coeur, the night, your heart, the day,
der Tag, die Nacht, das Herz.“

Wolfgang Borchert, „Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck“, in einem Zyklus von Erzählungen aus dem Herbst 1946 bis zum Sommer 1947.

Zwei Weltkriege haben gegen die Barbarei auch die
Verneinung der Entmenschlichung, das Nie wieder!,
hervorgebracht.
Die Vorstellungen, Forderungen und humanen Begehrlichkeiten
nach Frieden, sozialer Wohlentwicklung,
Bildung und Kultur für Alle, pfleglicher Gesundheitsversorgung
und insgesamt freundlichen Lebensumständen
entstehen in gesellschaftlichen Krisen
immer wieder neu. Die Bedingungen sind
menschlich zu gestalten. Die Mehrheit kann sich dadurch
selbst verwirklichen.
Schönheit gedeiht in der Überwindung der Mühseligkeit
menschlicher Existenz.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 14. November 2006


XII. Zum Geleit XXVIII

Zur AS-Sitzung am 21. Dezember 2006

... Die Probleme sind weiterhin die gleichen; sie kulminieren, wenn man nicht über ihre Lösung berät und entsprechend handelt. In kurzer Zeit ist nun, bei fortgesetzter Ablehnung der Studiengebühren, mindestens aber des geltenden Gebührengesetzes, von Verwaltung und akademischer Selbstverwaltung eine Satzung zur Befreiung von der 500-Euro-Gebühr zu erarbeiten. Die Universität will die Möglichkeiten der Befreiung aus sozialen Gründen weit fassen und tendenziell transparent gestalten; die Behörde für Wissenschaft und Forschung droht mit der Anordnung einer juristisch zweifelhaften, restriktiven Handhabung der Befreiungsklauseln. Wird der politische Konflikt gewagt? Diese Diskussion wird am 18. Januar 2007 fortgesetzt ...

Sind Gebühren der Entwicklung gebührend?

1) Die Tugenden

„Es genügt, irgendeinem Krümel das Epitethon ‚deutsch’ anzuhängen, und Kaffeemaschine, Universitätsprofessor und Abführmittel haben ihr Lob weg.“

Kurt Tucholsky, „Deutsch“, 1924.

Wir seien: ordentlich, brav, fleißig, pünktlich, sittsam und standortdiensteifrig.
Wir seien nicht: kritisch, humorvoll, unbändig, weitsichtig, erwartungsvoll und menschenfreundlich.
Der Primat der Sekundärtugenden soll jetzt auch noch mit Gebühren bezahlt werden. Du bist Deutschland.

2) Keine wirkliche Rettung durch Sanitäter

„Die SPD hatte Wichtigeres zu tun; wenn in Deutschland ein Unheil im Anzug ist, dann steht die Bonzokratie dieser Partei da und setzt durch, daß im § 8 des Unheils statt ›muß‹ die Worte ›soll nach Möglichkeit‹ stehen. Es sind wackere Parlamentarier.“

Kurt Tucholsky, „Die Keuschheitsgürteltiere“, 1930.

Wer etwas ablehnenswert findet, sollte es auch nach den Gründen ablehnen, die sich in ihm regen.
Auch wenn die Vernunft nicht durchgedrungen ist und schlechte Maßnahmen eigensinnig gehandhabt werden müssen, ist das Unvernünftige nicht vernünftig geworden.
Mit Pflastern heilt man keine Brutalität. (Wesentlich ist ihr zu wehren, auch wenn akute Heilung keinesfalls unterlassen wird.) Die Vernünftigen müssen einen neuen Anlauf nehmen.

3) Das Gift der kommerziellen Propaganda

„Von der Dankbarkeit, die wir unsern lieben, hochverehrten heldenhaften, gesegneten und zum Glück stummen Gefallenen schulden, von diesem Hokuspokus bis zum nächsten Krieg ist nur ein Schritt. Was hier gemacht wird, ist Reklame.“

Kurt Tucholsky, „Über wirkungsvollen Pazifismus“, 1927.

Es ist - auch im Zivilen - Krieg. Die lüsterne Rendite schlägt Schneisen in die menschenwürdige Kultur. Wo Aktienkurse steigen wächst - vorerst - kein Gras oder Regenwald mehr.
Getragen wird die systematische Verrohung vom Hokuspokus, der Mensch sei nur etwas wert, wenn er sich rechne. Diese mentale Verirrung kann nur geistig, in Tateinheit mit kooperativem Engagement, überwunden werden. Hier bleibe keine Verlockung ungenutzt. Frieden ist mit den Geschäften nicht zu machen.

4) Widersprechen mit Perspektive

„›Tje ... der Doktor meint, es wäre ja nu nicht mehr so ... und da wäre es ja denn besser, wenn sie nu gleich ...‹ Aus. Das Wort ›Tod‹ wird taktvoll vermieden, wie überhaupt der Hamburger auch die pathetischen Vorgänge immer ins ›Faine‹ umbiegt. Fein und unerbittlich diesseitig, so ist Hamburg. (Erster Akt ›Hamlet‹. Eine hamburgische Dame zur andern: ›Bis schetzt gar kein Sinn in.‹ Erledigt, Herr Shakespeare!) Vorläufig ist es aber mal bannig heiß.“

Kurt Tucholsky, “Es ist heiß in Hamburg“, 1928.

Shakespeare sei nicht erledigt. („Hamlet“ kann als ein Werk gegen Krieg und Niedertracht gelesen und geschaut werden.)
Wenn nicht unbedingt „fain“, so doch „unerbittlich diesseitig“ ist der Umwandlung von einer Bildungseinrichtung in eine Koof-mich-Anstalt zu widersprechen.
Dieser Widerspruch ist der Beginn eines politischen und kulturellen Wandels.
Der Rest ist: Beginnen. Bannig heiß.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 12. Dezember 2006