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Dokumentation von Grundsatzpapieren zur Arbeit im Akademischen Senat (AS) aus dem Jahre 2015

„Zum Geleit“

Am Wendepunkt

„Daraus leitet sich auch folgendes ab: daß der ’alte Mensch’ durch den Wandel ebenfalls ’neu’ wird, weil er neue Beziehungen eingeht, da die ursprünglichen umgestürzt worden sind. Daher die Tatsache, daß man, bevor der positiv geschaffene ’neue Mensch’ Dichtung von sich gegeben hat, dem ’Schwanengesang’ des negativ erneuerten, alten Menschen beiwohnen kann: und häufig ist dieser Schwanengesang von bewundernswertem Glanz; das Neue vereinigt sich darin mit dem Alten, die Leidenschaften
erglühen darin auf unvergleichliche Weise usw. (Ist die Göttliche Komödie nicht vielleicht in gewisser Weise der Schwanengesang des Mittelalters, der aber auch die neuen Zeiten und die neue Geschichte vorwegnimmt?)“

Antonio Gramsci: „Die Enkelchen des Paters Bresciani“, Gefängnishefte, Heft 6, §64 (1930-32).



Inhalt

Editorial
1. Zum Geleit CII – Gespräch mit Kafka
2. Zum Geleit CIII – Wesentlich – Ein philosophischer Hinweis
3. Zum Geleit CIV – Eine Welt, eine Aufgabe – Ein Hinweis
4. Zum Geleit CV – Zur Möglichkeit drängen
5. Zum Geleit CVI – Fortsetzung (Wider den Stillstand)
6. Zum Geleit CVII – Der Sachzwang, ein schlechter Begleiter
7. Zum Geleit CVIII – Aufgeben?
8. Zum Geleit CIX – Aufklärung – Eine alte Sache neu
9. Zum Geleit CX – Aufgeschoben? – Eine Widerrede


Editorial

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

2015 – große Widersprüche rufen danach, aufgehoben zu werden. Für Frieden und globale Gerechtigkeit wächst das politische Bewußtsein im gemeinsamen Handeln. Die Kämpfe für internationale Solidarität haben in Griechenland, Portugal und jüngst in Spanien 2015 Kraft gewonnen und stellen die zynische Austeritätspolitik und die soziale Ungleichheit enorm in Frage. In Kanada beendet eine neue linksliberale Regierung den Privatisierungs- und Kürzungskurs und die Beteiligung an Kriegseinsätzen, in Großbritannien wird „Labour“ mit dem friedensbewegten Sozialisten Jeremy Corbyn wieder ein relevanter verändernder Faktor, in den USA entspricht die politische Polarisierung zunehmend der sozialen Zerrüttung des Landes – und die populäre Musik wird besser, weil linker. Zugleich aber forcieren die wirtschaftlichen und politischen Eliten international rücksichtslos ihre gescheiterte Politik von Krieg und Ausbeutung, bringen damit weitere Gewalt hervor und verschärfen das Kriegs-, Hunger- und Fluchtelend.
Die Aufgaben bleiben also.

In dieser Lage ist in der Universität zunehmend Solidarität für ein menschenwürdiges Zusammenleben gefragt und auf der Tagesordnung. Friedensbildung und -forschung, Flüchtlingssolidarität, Beiträge zur internationalen Verständigung und sozialen Entwicklung, zu Inklusion, ökologischer Nachhaltigkeit und wahrhafter Demokratie werden überall geleistet. Dies gelingt aber immer nur in Opposition zu einer Wissenschaftspolitik, die von Unterfinanzierung, Industriehörigkeit und Drittmittelabhängigkeit geprägt ist, die Opportunismus begünstigt und Bildung mündiger Persönlichkeiten sowie soziale Verantwortung der Wissenschaft für einen Pofel hält. Daran hat sich auch mit der Wahl der rot-grünen Landesregierung im Februar nichts Wesentliches geändert.

Der Akademische Senat (AS) als höchstes Wahlgremium der Universität hat politische Verantwortung dafür, ein befreiendes, kooperatives Handeln der ganzen Universität zu befördern. Durch studentische Initiative hat er sich auch vielfach entsprechend positioniert und wirkt für eine solidarische und demokratische Auseinandersetzung: im besten Fall geht es immer darum, ‚nach Innen‘ solidarisch Problemlösung zu erwirken und ‚nach Außen‘ gemeinsam für rechtliche, finanzielle und kulturelle Verbesserungen zu kämpfen.

Die „Geleite“, die wir in dieser Broschüre dokumentieren, sind dazu programmatische Schriften. Wir verfassen und publizieren sie anläßlich jeder Sitzung des Akademischen Senats zur kritisch-reflexiven und heiteren Erhellung des größeren Kontextes universitärer Arbeit. Immer geht es um die Möglichkeit humanistischer Veränderung als Teil der Wirklichkeit. Zu diesem Zweck sind sie gestaltet.
In dieser Broschüre ist jedem „Geleit“ eine kurze Einordnung des jeweiligen Arbeitszusammenhangs des Akademischen Senats vorangestellt. So ist auch ein Überblick über die wesentlichen Kontroversen des Gremiums im Jahr 2015 möglich.
Wir wünschen anregende Lektüre!

Liste LINKS und harte zeiten – junge sozialisten
Zusammen das „Bündnis für Aufklärung und Emanzipation! (BAE!)“


1. Zum Geleit CII

Zur AS-Sitzung am 15. Januar 2015

Der Jahresanfang steht auch im Zeichen der vorgezogenen Parlamentswahlen in Griechenland, aus denen die linke Bewegung „Syriza“ als Sieger hervorgehen wird und der Bürgerschaftswahlen im Februar. Es sind die hochschulpolitischen Sprecher aller Bürgerschaftsparteien eingeladen. Die Forderungen der Hochschulen aus dem „Heißen Herbst 2014“ für eine bedarfsgerechte öffentliche Finanzierung, die kritische Wissenschaft und Bildung ermöglicht sowie die universitären Positionen zu einer Revision des Bologna-Prozesses und die studentische Forderung nach einer Zivilklausel werden diskutiert. Die größte Übereinstimmung zwischen AS und Abgeordneten gibt es bei der LINKEN. Das liegt auch daran, daß alle anderen Parteien auf die „Schuldenbremse“ fixiert sind und damit eigentlich jede politische Gestaltung aufgegeben haben.

Gespräch mit Kafka

FRANZ KAFKA: AUF DER GALERIE (Nov. 16/Febr. 1917; ersch. 1920)
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das - Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will - da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.“

In der Manege

Hast, guter Freund, sehr klar erkannt,
Daß der Betrachter nicht gerannt,
Um all dem scheinbar bunten Treiben -
Einhalt gebietend, kann nicht bleiben -,
Ein Ende zu bereiten jäh,
Auf daß das Leben nicht mehr zäh.
Sitzt er da und muß still leiden,
Will befreiend Tat vermeiden,
Kann man erkennen auf der Stelle,
Worin des Rätsels Lösung schnelle:
Wenn wir uns stark zusammentun,
Dann mag derweil das Elend ruh´n.
Auch uns’re Träume werden heiter,
Wenn wir den Laden bringen weiter.


2. Zum Geleit CIII

Zur AS-Sitzung am 16. April 2015

Nach der Bürgerschaftswahl muß sich der AS mit dem neuen „Regierungsprogramm“ von SPD und Grünen auseinandersetzen. Dies tut er auch in dem Bewußtsein, daß 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus viele Ansprüche und Hoffnungen, die international damit verbunden waren, erneute Aktualität gewonnen haben. Die ökonomische Verwertung von Bildung und Wissenschaft (von der besseren Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft ist im Koalitionsvertrag die Rede) steht einer aufgeklärten humanistischen Entwicklung entgegen. Das universitäre Zusammenwirken für Verbesserungen erfordert Bekräftigung:

Wesentlich

Ein philosophischer Hinweis

1) Aussicht durch Geduld

„In dieser Reihenfolge liegt eben das Versöhnende; das Barbarische empört uns nicht mehr, und das Abgeschmackte verletzt uns nicht mehr, wenn wir es als Anfänge und notwendige Übergänge betrachten.“

Heinrich Heine, „Reise von München nach Genua“, 1828.

Vieles lächelt und ist dabei häßlich. Wenn wir uns nicht beirren lassen, lächeln wir.

2) Rational in die Hand nehmen

„Deren Stellung gering erscheint
Wenn man sie ansieht
Das sind
Die Mächtigen von morgen
Die deiner bedürfen, die Sollen die Macht haben.“

Bertolt Brecht, „Über die Bauart langdauernder Werke“, 1929.

Solide ist, was im Konkreten einen allgemeinen Sinn erfüllt. Auf diesen Sinn ist zu pochen. Wachsamkeit ist angemessen. Die einige Menge ist des Tigers Flucht.

3) Genauigkeit

„Ein Werk der Kunst trägt man immer als Ganzes, und möge die ästhetische Philosophie auch wollen, daß das Werk des Wortes und der Musik, zum Unterschied von dem der bildenden Kunst, auf die Zeit und ihr Nacheinander angewiesen ist, so strebt auch jenes danach, in jedem Augenblick ganz da zu sein. Im Anfang leben Mitte und Ende, das Vergangene durchtränkt das Gegenwärtige, und auch in die äußerste Konzentration auf dieses spielt die Vorsorge fürs Zukünftige hinein.“

Thomas Mann, „Die Entstehung des Doktor Faustus“, 1949.

So genommen, kommt es auf jeden Ton und jedes Wort an. Der Zusammenhang und die Perspektive sind entscheidend. In jedem Werk – im Solo und im Ensemble.

4) Wenn...

„›Wenn ich so viel Geld hätte‹, sagte Joachim Ringelnatz, ›und so viel Macht, daß ich alles auf der Welt ändern könnte, dann ließe ich alles so, wie es ist.‹“

Kurt Tucholsky, „Schnipsel“, 1931.

Wenn wir die Einsichten von Tucholsky und Ringelnatz aufnehmen, können wir die Welt ändern.


3. Zum Geleit CIV

Zur AS-Sitzung am 21. Mai 2015

Griechenland und Syrien stehen für alte Kulturen, auf deren Erbe die Zivilisation gebaut ist. Sie stehen aber auch sinnbildlich für die jüngsten Verheerungen einer auf Gewinnschneiderei ausgerichteten Politik. Der Unmenschlichkeit befreiend zu begegnen ist eine der wesentlichen Aufgaben der Universität; das muß reflektiert werden:

Eine Welt, eine Aufgabe

Ein Hinweis

1) Der Mensch ist global

„Die alten Germanen waren vermutlich nicht besser und nicht schlechter als andere Menschen auch. Leider wissen wir herzlich wenig von ihnen. Weniger als von Griechen, Ägyptern und Chinesen. (…) Jede Kultur birgt expansive Kraft in sich, dringt über die Grenzen des Stammes hinaus und vermischt sich mit anderen an und für sich fremden Elementen zu einer neuen Einheit.“

Carl von Ossietzky, „Die Teutomanie“, 1922.

Das Bewußtsein früher Hochkulturen lenke den Respekt auf die Gegenwart. Wer erfand die Nudel?

2) Frieden durch Kritik

„Von der Dankbarkeit, die wir unseren lieben, hochverehrten, heldenhaften, gesegneten und zum Glück stummen Gefallenen schulden, von diesem Hokuspokus bis zum nächsten Krieg ist nur ein Schritt. Was hier gemacht wird, ist Reklame.“

Kurt Tucholsky, „Über wirkungsvollen Pazifismus“, 1927.

Die Bundeswehr in den Schulen schafft Unsicherheit. Es gibt keinen Frieden mit Waffen, Waffengeschäften und dem Glauben an Gewalt.

3) Hilfreiche Dialektik

„Ohne Völkerfrieden ist, ebensowenig als ohne den Willen der Mehrheit, soziale Gerechtigkeit denkbar.“

Heinrich Mann, „Kaiserreich und Republik“, 1919.

Wer Innen und Außen als Einheit begreift, sich als Mehrheit erkennt und Geist und Tat in Einklang bringt, kann sehr wirksam sein.

4) Die sogenannte Zufriedenheit

„Vertrauet eurem Magistrat,
Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten;
Euch ziemt es, stets das Maul zu halten.“

Heinrich Heine, „Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen“, 1853.

Widerspruch?


4. Zum Geleit CV

Zur AS-Sitzung am 18. Juni 2015

Nach einem gelungenen Dies Academicus zur „Wissenschaft als Revolutionärin“, bei dem Nachhaltigkeit, Frieden und die Bildung zur Menschlichkeit und kollektivem Eingreifen im Mittelpunkt stand, geht es nun um Schlußfolgerungen für die Rahmenprüfungsordnung. Der Gegensatz zwischen Humanität und Verbetriebswirtschaftlichung respektive Restriktionen im Studium, die der Anpassung statt der Bildung mündiger Menschen dienen sollen, muß diskutiert werden. Auf dieser Grundlage wird ein produktiver Prozeß der Studienreform auf eine neue Stufe gehoben:

Zur Möglichkeit drängen

Ein deutsches Volkslied
»Das Volk ist doof, aber gerissen.«
In deutschen Landen ist augenblicklich ein Lied im Schwange, das den vollendetsten Ausdruck der Volksseele enthält, den man sich denken kann – ja, mehr: das so recht zeigt, in welcher Zeit wir leben, wie diese Zeit beschaffen ist, und wie wir uns zu ihr zu stellen haben. Während der leichtfertige Welsche sein Liedchen vor sich hinträllert, steht es uns an, mit sorgsamer, deutscher Gründlichkeit dieses neue Volkslied zu untersuchen und ihm textkritisch beizukommen. Die Worte, die wir philologisch zu durchleuchten haben, lauten:

Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen –
sein klein Häuschen – sein klein Häuschen –
und die erste und die zweite Hypothek!

Bevor wir uns an die Untersuchung machen, sei zunächst gesagt, dass das kindliche Wort ›Oma‹ so viel bedeutet wie ›Omama‹, und dieses wieder heißt ›Großmutter‹. Das Lied will also besagen: »Wir, die Sänger, sind fest entschlossen, das Hab und Gut unsrer verehrten Großmutter, insbesondere ihre Immobilien, zu Gelde zu machen und die so gewonnene Summe in spirituösen Getränken anzulegen.« Wie dies –? Das kleine Lied enthält klipp und klar die augenblickliche volkswirtschaftliche Lage: Wir leben von der Substanz. So, wie der Rentner nicht mehr von seinen Zinsen existieren kann, sondern gezwungen ist, sein Kapital anzugreifen – so auch hier. Man beachte, mit welcher Feinheit die beiden Generationen einander gegenübergestellt sind: die alte Generation der Großmutter, die noch ein Häuschen hat, erworben von den emsig verdienten Spargroschen – und die zweite und dritte Generation, die das Familienvermögen keck angreifen und den sauern Schweiß der Voreltern durch die Gurgel jagen! Mit welch minutiöser Sorgfalt ist die kleine Idylle ausgetuscht; diese eine Andeutung genügt – und wir sehen das behaglich klein-bürgerliche Leben der Großmama vor uns: freundlich sitzt die gute alte Frau im Abendsonnenschein auf ihrem Bänkchen vor ihrem Häuschen und gedenkt all ihrer jungen Enkelkinder, die froh ihre Knie umspielen ...
Das ist lange her, Großmutter sank ins Grab, und die grölende Korona der Enkel lohnt es ihr mit diesem Gesang: »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen ... « Ist dies ein Volkslied –? Es ist seine reinste Form. Man darf freilich nicht an früher denken. Früher sang wohl der Wanderbursch sein fröhlich Liedchen von den grünen Linden und den blauäugigen Mägdelein – weil das sein Herz bewegte. Nun, auch dieses Lied singt von dem, was unser Herz bewegt: von den Hypotheken. Hatte früher Walther von der Vogelweide sein »Tandaradei« durch die Lüfte tönen lassen und den Handel den Pfeffersäcken überlassen, so ist es heute an den Kaufleuten, »Tandaradei!« zu blasen, und die Liederdichter befassen sich mit den Hypotheken. Wenn auch freilich in naiver Weise. Denn es ist dem Liedersänger entgangen, dass die Hypothek selbst ja eine Schuld ist, die man unmöglich vertrinken kann – meint er doch wahrscheinlich die für die eingetragene Hypothek als Darlehn gegebene Summe, die der Schuldner in leichtfertiger Weise verbraucht. So singt das Volk. Hier spricht die Seele deines Volkes. Hier ist es ganz. Es soll uns nicht wunder nehmen, wenn nächstens in einem schlichten Volkslied das Wort ›Teuerungszulage‹ oder ›Weihnachtsgratifikation‹ vorkommt – denn dies allein ist heute echte, unverlogene Lyrik.
Dichter umspannen die Welt in brüderlicher Liebe, Poeten sehen Gott in jedem Grashälmchen – das ehrliche Volk aber gibt seinen Gefühlen unverhohlen Ausdruck. Noch lebt es von den Gütern der Alten. Langsam trägt es Sommerüberzieher, Sofas, Überzeugungen und Religionen auf – neue schafft es zur Zeit nicht an. Was dann geschieht, wenn die alle dahin sind, darüber sagt das Lied nichts. Vorläufig sind sie noch da – und so lange sie noch da sind, lebt das Volk von der Substanz.
Und versauft der Oma sein klein Häuschen.“

Peter Panter
Die Weltbühne, 14.12.1922, Nr. 50, S. 623.

Neue Substanz
Wenn Tucholsky in den Gassen
Lieder hört und kann nicht lassen,
Seinen Ohren wohl zu trauen,
Auch genauer hinzuschauen,
Kann entdecken er im Sange,
Was sozial bereits im Schwange,
Heißt, was bisher war erworben,
Trinkt hinunter, wenn verstorben
Oma, die verbliebene Schar,
Ohne Skrupel scheint es gar.
Wenn aber Zweifel sich nun mehrt,
Daß diese Lage ist verkehrt,
Jetzt Gründe man erkennen kann,
Gut weiß und handelt, immer dann,
Läßt sich drehen an den Dingen,
Für Verbesserungen ringen,
Feiern die Gemeinsamkeiten,
Für Entfaltung munter streiten,
Für eine bess´re Sozietät -
Zu diesem Zweck ist´s nie zu spät.
So weiß Tucholsky uns zu sagen,
Was wir auch heute sollten wagen.


5. Zum Geleit CVI

Zur AS-Sitzung am 9. Juli 2015

Die Republik muß sich in neuer Intensität den Gründen und persönlichen wie gesellschaftlichen Folgen von Flucht stellen. Die Universität will sich in diesem Zusammenhang ein weiteres Mal öffnen. Das schließt auch geschichtsbewußtes Engagement mit ein. Der AS beschließt, alle von den Nazis unrechtmäßig aberkannten akademischen Titel von politisch und rassistisch Verfolgten wieder herzustellen und für die Aufklärung des historischen Unrechts eine Kommission einzusetzen.

Fortsetzung

(Wider den Stillstand)

1) Weltspiegel

„Niemand wird leugnen, daß in einer Welt, in welcher sich alles durch Ursache und Wirkung verwandt ist, und wo nichts durch Wunderwerke geschieht, jeder ein Spiegel des Ganzen ist.“

Georg Christoph Lichtenberg, „Über Physiognomik“, 1778.

Wer sich nicht im Labyrinth des Selbst verliert, sich hingegen im Wechsel zur Welt begreift, kann Einsichten, Aussichten sowie Gestaltungspotentiale entdecken.

2) Kooperation

„Kein gerechterer Beurteiler fremden Verdienstes als der philosophische Kopf. (…) – zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben.“

Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, 1789.

Spezielle Erkenntnis muß allgemein werden. Anregungen gehen hinaus und erweitern die Ansprüche. Geheimnisse verbittern. Geschichte ist lehrreich.

3) Engagement

„Nein, nein, nein. Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“

Bertolt Brecht, „Leben des Galilei“, 1939.

Was ist – auch und nicht zuletzt für die Wissenschaft – ein optimales Gemeinwesen?
Frieden und Brot, Vernunft und Musik.

4) Haltung

„Der Republikanismus eines Volkes besteht dem Wesen nach darin: daß der Republikaner an keine Autorität glaubt, daß er nur die Gesetze hochachtet, daß er von den Vertretern derselben beständig Rechenschaft verlangt, sie mit Mißtrauen beobachtet, sie kontrolliert, daß er also nie den Personen anhängt und diese vielmehr, je höher sie aus dem Volke hervorragen, desto emsiger mit Widerspruch, Argwohn, Spott und Verfolgung niederzuhalten sucht.“

Heinrich Heine, „Französische Zustände“, Artikel IX, 1832.

Zudem: Es gibt außer Parlament und Regierung viele gesellschaftliche Betätigungsfelder, die in Richtung 3) weisen.


6. Zum Geleit CVII

Zur AS-Sitzung am 3. September 2015

Die Universität hat eine Grundordnung. Das ist eine Art Verfassung. Mit dieser orientiert die Universität sich an den „Grundsätzen einer ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung“, will zum Frieden und zu internationalem Austausch beitragen, die Freiheit der Wissenschaften und die demokratischen Rechte der Hochschulmitglieder und ihr kooperatives Zusammenwirken stärken. Diese Ambition ist auch in die Reform des Hamburgischen Hochschulgesetzes eingegangen, das 2014 (unzureichend) von neoliberalen Hinterlassenschaften befreit wurde. Es geht nun darum, auch gegen den Widerstand konservativer Professor_innen, neue und ältere demokratische Errungenschaften wieder zu stärken.

Der Sachzwang, ein schlechter Begleiter

1) Den Widerspruch wissen

„Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.“

Franz Kafka, „Der Prozeß“, vollendet 1914/15, erschienen 1925.

Wir halten inne: Die unbeugsame Vitalität bezwingt das scheinbar Unausweichliche?
Man kennt das: Es war nicht immer so. Das läßt hoffen.

2) Die Ablehnung des Gegenteils

„Maske des Bösen
An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack.
Mitfühlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
Wie anstrengend es ist, böse zu sein.“

Bertolt Brecht, Gedichte 1939-1949.

Ein Bildnis an der Wand: Neid, Mißgunst, Rachelust, Unterwerfungsenergie, Un-Souveränität – kurz vor dem Ausbruch – erheischen – nicht ohne eine Spur von Ironie – Mitleid wegen der negativen und nutzlosen Anstrengung. Anders-Sein liegt nahe.

3) Das Ringen

„War ich ein Kämpfer? Ich gestaltete, was ich sah, und suchte mein Wissen überzeugend, wenn es hoch kam, auch anwendbar zu machen.“

Heinrich Mann, „Ein Zeitalter wird besichtigt“ (Autobiographie), 1944.

Freiheit, Gleichheit und Solidarität: Erbe, Tatsache, Prozeß und Ergebnis. Nachlesbar und aktuell.

4) Das vermaledeite Subjekt

„Man soll nichts tun, was einem nicht gemäß ist.“

Kurt Tucholsky, „Schnipsel“, 1932.

Schon wieder Tucholsky? Er hat recht.


7. Zum Geleit CVIII

Zur AS-Sitzung am 22. Oktober 2015

Die Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank besucht den AS. Dieser kann in der Diskussion seine durchaus oppositionellen Ansprüche für eine demokratische und sozial sinnvolle Hochschulentwicklung entfalten. Die Senatorin zeigt sich gesprächsbereit, überzeugt aber wenig: „Hafen, Handel, Hochschule“ als Motto verschleiern den Gegensatz zwischen Gewinnorientierung und Humanität. Der Aufbruch in Bildung und Wissenschaft für eine lebenswerte, global gerechte Welt bedarf der Fortsetzung.

Aufgeben?

Ein Kommentar
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: »Von mir willst du den Weg erfahren?« »Ja«, sagte ich, »da ich ihn selbst nicht finden kann.« »Gibs auf, gibs auf«, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

Franz Kafka, 1922.

Erkennen
Wer sich so sieht, in fremder Stadt, getrieben –
Im Schritt geeilt, der Weg ist ungewiß –,
Der möchte nicht, die Kirchturmuhr schlägt sieben,
Daß dann die Obrigkeit mit Lachgebiß
Den Suchenden durch Häme pur degradiert,
Skurril den hilfreich Hinweis verweigert,
Sich in der Verachtung am wenigsten ziert,
Sie sogar am Ende weidlich steigert.
So sehen wir, geh´n streng damit zu Gericht,
Sagen klar mit Bestimmtheit nun: So nicht!


8. Zum Geleit CIX

Zur AS-Sitzung am 15. November 2015

Der Hochschulrat, ein autoritatives Aufsichtsgremium, das einst von einer CDU-FDP-Schill-Regierung den Hochschulen vorgesetzt wurde und die Interessen der Wirtschaft wahren soll, hat die Grundordnung der Universität eigenmächtig geändert. Der Akademische Senat ist darüber zurecht verärgert. Da aber im Mittelpunkt steht, daß die Universität zügig ihre demokratische Verfassung erneuert und sich den gesellschaftlichen wie politischen Herausforderungen zuwendet, wird ein Weg gefunden, eine Einigung zu erzielen. Aus einer Attacke auf die demokratische Souveränität der Uni wird deren Stärkung. Ohne Verspannung, mit gutem Gedächtnis und weitreichenden Plänen:

Aufklärung

Eine alte Sache neu

1) Der Skandal

„Der [VW-] Skandal wird immer größer und unübersichtlicher, die Fragen immer zahlreicher. Wie konnte es sein, dass niemand die Tricksereien bei den Tests bemerkte? Nicht das Kraftfahrtbundesamt? Nicht die vom Amt beauftragten Prüfer, hier insbesondere der Tüv Nord? (…) Es geht darum, herauszufinden, ob VW ein Einzelfall ist.“

Lisa Nienhaus, „Das System Volkswagen“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ („FAS“), 8.11.´15, S. 23.

„An einen Lügner
Du magst so oft, so fein, als dir nur möglich, lügen, Mich sollst du dennoch nicht betriegen. Ein einzigmal nur hast du mich betrogen, Das kam daher, du hattest nicht gelogen.“

Gotthold Ephraim Lessing, Sinngedichte, 1753-1771.

2) Mit Verstand

„Trux an den Sabin
Ich hasse dich, Sabin; doch weiß ich nicht weswegen:
Genug, ich hasse dich. Am Grund ist nichts gelegen.
Antwort des Sabin
Haß mich, soviel du willst! doch wüßt ich gern, weswegen;
Denn nicht an deinem Haß, am Grund ist mir gelegen.“

Lessing, ebenda.

Nicht nur alle Beteiligten wissen, daß die Steigerung des ökonomischen Gewinns vor Mensch und Umwelt steht. Das ist zu ändern.

3) Änderung

„In ein Stammbuch
Wer Freunde sucht, ist sie zu finden wert;
Wer keinen hat, hat keinen noch begehrt.“

Lessing, ebenda.

Erkenntnisse fordern Konsequenzen, Wirkungen verlangen Handlungen – Taten folgen Worten: Solidarität.

4) Haltung

„Ein Besonderes, insofern wir das Allgemeine in ihm anschauend erkennen, heißt Exempel.“

Lessing, „Abhandlungen über die Fabel“, 1759.

Ein Beispiel zeigt uns, daß wir überall erkennen, handeln und verändern können.


9. Zum Geleit CX

Zur AS-Sitzung am 17. Dezember 2015

Ein Angriff auf eine vernünftige Entwicklung von Bildung und Wissenschaft ist die sogenannte „Exzellenzinitiative“. Es geht darum, daß Hochschulen gegeneinander um öffentliche Mittel konkurrieren und dafür sich auf erfolgversprechende (Mainstream-)Forschung konzentrieren sollen. Die Chose ist angesichts der scharfen Unterfinanzierung der Unis – bis 2020 sollen etwa weitere 5 % der Mittel in der Grundfinanzierung abgebaut werden – für einige eine gefährliche Verlockung. Die meisten aber schütteln den Kopf über das offenkundige Blendwerk und wenden sich der Frage zu, wie gemeinsam die Lage verbessert werden kann; alle werden politischer:

Aufgeschoben?

Eine Widerrede

1) Der Ausgang aus der...

„Eine Epoche nur nach denjenigen ihrer Erscheinungen zu werten, die in Presse, Buch oder Kunstwerk einen Niederschlag gefunden haben, ist töricht; so haben zum Beispiel die wirtschaftlich Unterdrückten fast niemals den Apparat zur Verfügung, der ihrer Bedeutung entspricht.“

Kurt Tucholsky, „Die Zeit“, 1930.

Es gibt sie ja doch – immer mehr –, die Alternative: in manchem, an vielen Orten; sie beginnt im eigenen Unbehagen, hat historische Beispiele, einen Sinn für Seinesgleichen sowie die menschliche Tatsache des aktiven Lernens.

2) Aufschub?

„Der Zeit aber wollen wir nicht nachlaufen, wir wollen in ihr leben.“

Kurt Tucholsky, „Die Zeit“, 1930.

Wir kennen das: Bei bedrängter Getriebenheit läuft das Glück stets hinterher. So war das nicht gemeint. Wenn wir die Richtung ändern, ist das anders. Die Erkenntnisse sind gewachsen. Es fehlt: Das Sprengen von engen Gewohnheiten.

3) Realiter

„– Romantiker glauben immer, wenn sie bewegt seien, bewegten sie auch schon dadurch die Welt. Selbst echte seelische Erschütterung ist noch kein Beweis für die Nützlichkeit und den Wert einer Idee.“

Kurt Tucholsky, „Die deutsche Pest“, 1930.

Der Mensch als Subjekt sei rational, leidenschaftlich, eigenwillig, aufmerksam, sozial interessiert, schimpfend und lachend sowie gesellschaftlich wirksam – ohn’ Unterlaß. So ist die schwärmerische Schwermut ausgetanzt.

4) Nicht ohne Zwerchfell

„ Jeder Mann seine eigene Partei. Übrigens kommt sowas nur bei Dackelvereinen vor. Politische Parteien tun dergleichen fast nie. Womit ich nichts gesagt haben möchte.“

Kurt Tucholsky, „Die Opposition“, 1930.

Sich zu assoziieren ist am besten ungleich der Vereinsmeierei.